EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 1/2020
Die regelmäßige direkte Begegnung mit Künstlern liegt in der Natur unseres Berufs – sie erfordert jeden Monat eine eingehende vorbereitende Beschäftigung, ermöglicht dadurch aber auch das Erlebnis nicht nur der weithin sichtbaren, öffentlichen Künstler-Figur, sondern zu unterschiedlichen Graden auch der Menschen dahinter. Manche Künstler-Biografien ähneln sich, viele haben die gleichen prägenden Meilensteine und Schlüsselmomente hinter sich, treffen ähnliche Entscheidungen; manche Interviews konzentrieren sich ganz professionell aufs „Technische“, andere überraschen mit einem persönlichen Twist – und obwohl es jedes einzelne Mal etwas Besonderes und ein Privileg ist, im direkten Gespräch in die Gedanken und Gefühle seines Gegenübers blicken und reinhorchen zu dürfen, gibt es darunter auch immer wieder Lebensgeschichten, die ganz besonders berühren und beim Lesen nicht nur mitreißen, sondern einen auch noch lange danach nicht loslassen. Viele schauen gern vorrangig auf die Soprane und Tenöre – aber hätten Sie geahnt, was für einen bewegten Lebensweg der Bass Vitalij Kowaljow, den unser Mitarbeiter während einer »Don Carlos«-Serie in Paris traf, hinter sich hat?
Weiter →Eine rastlose Kindheit, harte körperliche Arbeit schon in jungen Jahren, Wehrdienst und Stationierung am Nordpol, anschließend Dienst bei der Feuerwehr, dann durch einen schweren Arbeitsunfall eine Stelle beim Kirchenchor, die nach dieser wahrhaften Odyssee die Rückkehr zur Musik und letztendlich durch jenes glückliche Momentum, das manchmal notwendig ist, den Sprung in die Schweiz, seine neue Heimat, und den Beginn einer großen Sängerkarriere bedeutete. Was für eine Geschichte, geschildert in lebhaften, ganz offenen Worten, die auch Sie, liebe Leser, mitreißen werden, da bin ich mir sicher.
Wir blicken zu Beginn des neuen Jahres also aus ganz unterschiedlichen und erfrischenden Perspektiven auf den Opernkosmos – nicht nur aus der Sicht des Sängers, sondern mit Anna Skryleva auch aus der einer jungen Dirigentin, die geradlinig ihren Weg im Musikzirkus geht, während wir mit dem Duo Praxedis nicht nur eine schöne und selten gewordene Gelegenheit erhalten, den intimen Rahmen von Salonkonzerten wieder aufleben zu lassen, sondern dank der ungewöhnlichen Kombination Harfe/Klavier auch spannende Einblicke in ein vielen heute unbekanntes rezeptionsgeschichtliches Kapitel der Musikgeschichte gewinnen können. Im Gespräch vor allem mit Liedsängern ist es schon in der Vergangenheit immer wieder mal Thema in unseren Interviews gewesen – die Wertschätzung einer sehr ursprünglichen Form der Musikdarbietung, wie sie im 19. Jahrhundert so populär war in intellektuellen Kreisen. Das Duo Praxedis nimmt uns in eine Zeit mit, in der man sich die Oper mittels Arrangements für unterschiedliche Instrumente und Musikerkonstellationen live nach Hause holen oder selbst nachspielen konnte. „Live“ ist in Zeiten von Streaming oftmals nicht mehr das Problem, mag man einwenden – aber gerade wer selbst ein Instrument erlernt und gelegentlich mit seinen Mitschülern, Ensemble-Partnern oder Mitgliedern seines Orchesters in loser Runde und in den unorthodoxesten Kombinationen daheim musiziert hat, denkt sicherlich nostalgisch an eben diese Zeiten zurück, in denen Hausmusik etwas Normales und vor allem ein großer Nachfragemarkt war, für den arrangiert und komponiert wurde.
Nostalgie ist bekanntermaßen nicht für jeden etwas – der eine schaut gern zurück, der andere viel lieber nach vorn, und beides hat seine Berechtigung; aber ob Sie nun das progressive Regie-Konzept oder den wie eine Ausgrabung aus lange zurückliegenden Tagen anmutenden Berliner »Samson« bevorzugen: Ich bin mir sicher, dass auch in unserer Januar-Ausgabe für jeden von Ihnen ein Thema dabei sein wird, das Sie inspiriert und interessiert mit offenen Augen, Ohren und Herzen in das neue Jahr starten lässt. Denn daran, dass das wichtig ist, dürfte kein Zweifel bestehen.
In diesem Sinne: Ein frohes neues Jahr!