EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 11/2021
Dieser Tage wird sich gern und viel empört, nicht nur in und über Politik oder bei gesellschaftlichen Themen – von denen die manchmal erstaunliche Wut über das Gendersternchen als exemplarisches Beispiel genannt sei –, auch die Kultur ist nicht frei vom grassierenden Klima der Entrüstung auf der einen und der wachsenden Verunsicherung auf der anderen Seite. Auch in dieser Ausgabe tauchen sie in der einen oder anderen Rezension auf: Worte und Fragen wie „das politische Fettnäpfchen“, „die Klippen“, die umschifft werden müssen, „political correct“, „geht das noch in Zeiten von MeToo?“ oder „die große kulturpolitische Diskussion“.
Weiter → Sie alle sind mehr oder weniger eloquente Umschreibungen eines Problems (so man es denn als solches bezeichnen möchte), das mit dem Aufkommen eines grundsätzlichen Hinterfragens von althergebrachten Denkmustern in einer globalisierten und divers gewordenen Gesellschaft einhergegangen ist und sich inzwischen auf viele unterschiedliche Lebensbereiche erstreckt. Diese Fragen betreffen nicht länger nur das Verhältnis von Frau und Mann oder die gern bemühten Beispiele aus der Kinder- und Jugendliteratur à la „Pippi Langstrumpf“, sondern sind inzwischen auch tief in die sogenannte Hochkultur vorgerückt: »Aida«, »Otello«, »Madama Butterfly« liegen als „Problemfälle“ auf der Hand, aber auch ein »Troubadour«, »Carmen«, »Gräfin Mariza« und die »Entführung aus dem Serail« können die eingangs genannten Fallstricke bereithalten, kurz: Werke eben, in denen andere Kulturen aus westeuropäischer Perspektive dargestellt wurden und für die heute Deutungsformen gefunden werden müssen, die im Einklang mit den Ansprüchen einer modernen Gesellschaft stehen. Darüber, dass Blackfacing als künstlerisches Mittel ein Unding ist, dürfte inzwischen ein allgemeiner Konsens bestehen, aber gleich dahinter setzt oft bereits die Grauzone der Verunsicherung darüber an, wo kulturelle Aneignung beginnt und wie unangetastet die in diesem Kontext viel zitierte „eigentliche Aussage des Werks“ bleiben soll/darf. Darf eine nicht-asiatische Interpretin der Cio-Cio-San mit asiatischen Ausstattungs- und Make-Up-Attributen japanisiert werden? Dürfen nicht-afrikanischen Darstellern afrikanische Frisuren verpasst werden? Und auf der anderen Seite: Wodurch genau wird denn die „Botschaft des Stückes“ minimiert oder beschädigt, wenn man eine Oper ohne erzwungenes Lokalkolorit universell erzählt? Wie unsere Titelkünstlerin Okka von der Damerau ganz zutreffend sagt: Diversität auf der Bühne führt zu mehr Identifikationsmöglichkeiten für das Publikum – und ist somit eine große Chance auch für die Opernbranche.
Schade dabei ist, mit wie wenig Verständnis füreinander die Debatte oftmals geführt wird, wie rau der Ton geworden ist und wie viele uninformierte anonyme Diskussionsteilnehmer aller Generationen nur allzu bereit sind, auf Züge aufzuspringen – quasi Empörung um der Empörung willen. Diese kommt dieser Tage ohnehin so schnell wie nie und beginnt fast im selben Moment schon direkt mit dem Wellenschlag, allzu oft leider ohne stich- und nachhaltige argumentative Substanz. Weniger Empörung, mehr Verständnis, ein aktives Heraustreten aus der eigenen Blase (in der man schneller gefangen ist, als man meint) wären hilfreich, schließlich gäbe es keinerlei Fortschritt, wenn weiter dieselben Spielregeln wie vor siebzig Jahren gelten würden und man an Dingen festhielte, nur weil es früher auch schon so war. Aber: ein wenig Gelassenheit und Empathie wären hier und da schön, beides hat dem Menschen schließlich noch nie geschadet. Eine inspirierende frühherbstliche Lektüre wünsche ich Ihnen.