EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 11/2014
Talent ist eindeutig vorhanden. Das ist nicht zu übersehen, schon gar nicht zu überhören. Von den großen, namhaften Stars einmal abgesehen, erlebt man auf den Bühnen weltweit unzählige großartige Leistungen von eben jenen Künstlern, die (noch?) nicht ganz so sehr im Rampenlicht stehen und doch nicht minder engagiert, ansteckend begeisternd, souverän und zuverlässig ihr Bestes geben, um das Gesamtkunstwerk Oper Abend für Abend zu schönstem Leben zu erwecken.
Weiter →Und ich bin mir sicher, dass auch Sie, liebe Leser, bei Ihren Opern- und Konzertbesuchen hin und wieder die tollsten Entdeckungen machen: eine besonders schöne Stimme, die Sie bisher noch nie gehört hatten – oder zumindest noch nicht in dieser Partie, in diesem Fach, erstmals live; ein mitreißendes darstellerisches Talent, das Sie unmittelbar gefangen nimmt; eine außergewöhnliche Bühnenpersönlichkeit, deren Entwicklung – vielleicht über Jahre hinweg am eigenen Stadttheater – unmittelbar mitverfolgt werden kann.
Talente entdecken kann eine anregende und sehr erfüllende Sache sein. In den vergangenen Wochen hat wieder eine ganze Reihe von Gesangswettbewerben gezeigt, wie es derzeit um den internationalen Sängernachwuchs steht – und wie außerordentlich hoch die Messlatte zuweilen anzusetzen ist. Da stehen selbst die ausgebufftesten Profis mit begeistertem Staunen davor und lassen sich mitreißen von der im Vorsingraum so hochmusikalisch dargebotenen, unmittelbar berührenden Emotion – Gänsehaut inklusive. Kostbare Augenblicke, wie man sie sich manchmal in einer mittelmäßigen Profiaufführung sehnlichst herbeiwünscht.
Auf der anderen Seite bleiben Negativausreißer keine Seltenheit. Stimme allein genügt eben nicht. Technik auch nicht. Und doch ist es immer wieder erschreckend, wie sehr es bei einigen jungen und so hoffnungsfroh startenden Sängerinnen und Sängern allein an vokalen Grundlagen mangelt. Da nützt weder der größte Eifer noch die tollste szenische Präsentation. Manche Darbietung gibt nicht das beste Bild ab vom Ausbildungsniveau an den jeweiligen Hochschulen, auch an unseren deutschen. Es ist schon irritierend, dass ausgerechnet aus jenem Land mit den meisten Musiktheateraufführungen, mit der weltweit größten Opernhausdichte, in das zudem aufgrund der hier so vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten nahezu alle internationalen Jungtalente für einen ersten Karriereschritt bevorzugt wechseln würden, seit Jahren kaum einmal ein Kandidat bei den großen Wettbewerben erfolgreich ist. Langsam ist es an der Zeit, den gewohnten Ist-Zustand einmal kritisch zu hinterfragen: Wie sind wir aktuell in Sachen Gesangsausbildung wirklich aufgestellt? Stimmen die Gewichtungen innerhalb der praktischen (gesanglichen, darstellerischen) Bereiche und insgesamt die Relation zu den theoretischen Unterrichtssegmenten? Wie ertragreich kann überhaupt ein System sein, das Studienbewerber trotz minderer Eignung meint aufnehmen zu müssen, um durch volle Klassen eine weitere Finanzierung der Professur sicherzustellen? Ein bedenklicher, vom Subventionsgeber indirekt forcierter, dabei durchaus in Kauf genommener Kreislauf, der nicht nur widersinnig mit Kapazitäten umgeht, sondern auch in unverantwortlicher Weise Hoffnungen schürt, wo erkennbar anders beraten werden sollte. Ehrlichkeit in diesem Punkt scheint aber ohnehin ein grundsätzliches Problem zu sein, da allzu viele Ausbilder, Lehrer, Agenten ungern auf Aufträge verzichten.
An Talent mangelt es dennoch nicht, im Gegenteil. Fachkundige Anleitung auf der einen, großes persönliches Engagement und kluge Selbsteinschätzung auf der anderen Seite sind die wesentlichen Stützpfeiler für eine Entwicklung, die im besten Falle zu herausragenden Ergebnissen führen kann, mit einer nicht selten schon in jungen Jahren bemerkenswert souveränen stimmtechnischen Beherrschung und ausgeprägten künstlerischen Reife. Chapeau! Glücklich das Opernhaus, das sich eines dieser hochbegabten Talente frühzeitig für das eigene Ensemble sichern kann. Die renommierten Wettbewerbe sind nicht umsonst von allen Seiten so begehrt, da hier Nachfrage und Angebot kongenial zusammentreffen. Und wenn alles richtig läuft, kann es schon einmal passieren, dass wir in einer Ausgabe nicht nur die diesjährigen Preisträger eines Wettbewerbs vorstellen, sondern auch gleich von zwei Premieren – der neuen Erfurter »Butterfly« und Saarbrückens spannender »Lucia« – berichten dürfen, in denen die mit Bestplatzierungen ausgezeichneten Talente des vorangegangenen DEBUT-Jahrganges mit großem Erfolg reüssiert haben. Wenn das keine schöne Bestätigung ist.