EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 10/2024||„Und ‚Nazis raus!‘, ruft es sich leichter / Da, wo es keine Nazis gibt / Doch Wittenberg ist nicht Paris“, sang die Chemnitzer Band Kraftclub vor zwei Jahren – und kritisierte in diesem Song treffend die großstädtischen, sich in ihren Diversitäts- und Toleranz-Errungenschaften selbst abfeiernden Bubbles für eine zunehmend weltfremde Sicht auf die Realität. Immer mehr Menschen fühlen sich – teilweise berechtigt durch erschreckende historische Parallelen, die sich andererseits aber nicht alle eins zu eins auf eine gänzlich anders strukturierte heutige Gesellschaft übertragen lassen – an die Zwanzigerjahre des vorangegangenen Jahrhunderts erinnert. Wer sich bestimmt mehr als ihm lieb ist an die Zwanziger erinnert fühlt, sind all jene, die in gesellschaftlich stark gespaltenen Gebieten Politik oder auch Kunst für diese Menschen diesseits und jenseits der Gräben machen müssen, die möglichst viele erreicht und abholt. Wer qua Beruf etwas unmittelbar „für“ die Menschen seines Einzugsgebiets erarbeitet und erschafft, muss sich zwangsläufig auch der unmittelbaren Wechselwirkung mit diesen Menschen stellen – Kunst „für“ die Menschen heißt das immer wieder. In dieser Wechselwirkung liegen jedoch Chancen wie Risiken; denn außer der Aussicht darauf, durch den direkten Draht zu seinem Publikum auch nahbarer zu werden, erfordert das Zusammenkommen mit Menschen, die sich für dein Tun interessieren, notgedrungen auch das offene Ohr für deren Wünsche.%weiter%Und wo eine Gesellschaft stark gespalten ist, können auch Wünsche weit auseinandergehen, was sich im schlimmsten Fall auf Spielpläne und Besetzungen oder eben am anderen Ende der Skala auf die Auslastungszahlen auswirken kann – da ist delikate Kompromissbereitschaft gefordert, ohne die künstlerische Vision aus den Augen zu verlieren. Umso mehr hätte man Veranstaltungen wie dem Kunstfest Weimar mit seinen auch programmatisch hoch relevanten Inhalten, die ein prägnantes Gegengewicht zum eher mit bewährtem Opernprotz über die Bühne gegangenen Festspielsommer gesetzt haben, eine noch größere mediale Beachtung gewünscht, denn nicht der Instagram-taugliche Massenprotest von Hamburgern ohne nennenswerte Probleme macht im Zweifel den Unterschied.
Mehr denn je kann man angesichts der zahlreichen Debatten, die das politische Tagesgeschäft prägen, nachvollziehen, warum so mancher der Hochkultur und ihren Machern die gesellschaftliche Relevanz abspricht – und sicherlich darf man manchmal hinterfragen, wie viel man für sich selbst aus einer wenig aussagekräftig inszenierten »Carmen« mitnehmen kann, wenn man weiß, dass gleichzeitig ein großer Teil des Landes nie ein Theater von innen gesehen hat, einfach weil das Leben ihm so einen Luxus nicht erlaubt. Die Relevanz liegt jedoch nicht allein in dem, was auf der Bühne geschieht oder in einem krampfthaft auf heutige Geltungskraft getrimmten Narrativ: Das Theater selbst ist doch der Ort der Relevanz. Und es wäre schön, wenn wieder mehr ihren Arbeitsplatz auch als solchen begreifen würden, denn nur so entstehen die nötigen Energien und Inspirationen, um mit dem entsprechenden künstlerischen Output für ein Profil zu sorgen, das die Menschen neugierig und zugewandt zu sich lockt.
Wir haben uns wie immer um eine abwechslungsreiche Reise bemüht und freuen uns darauf, sie auf den nachfolgenden Seiten mitzunehmen.||
Ihre Yeri Han