EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 10/2022 |
So schwer es auch fallen mag: Die kürzer werdenden Tage und frischeren Temperaturen bedeuten uns, dass es Zeit wird, sich vom Sommer zu verabschieden. Umso schöner ist es, dass die Ausgaben des Spätsommers / Frühherbsts uns noch ein wenig länger auf der Schwelle zwischen ausklingender Festspiel- und neuer Spielzeit verweilen lassen, diesmal mit einem besonderen Augenmerk auf italienischer Dolce Vita, dank eines stimmungsvollen Verona-Spezials, den alljährlichen Impressionen aus Pesaro – sowie einer Backstage-Plauderei in Verona mit „dem“ italienischen Tenor schlechthin: Vittorio Grigolo.
Der exaltierte Pavarotti-Zögling ist aber nicht die einzige starke Männerstimme, die wir in dieser Ausgabe näher beleuchten – anlässlich ihres gemeinsamen Albums nahmen der diesjährige Verona-Opern-Debütant Jonas Kaufmann und Ludovic Tézier sich die Zeit, mit uns über ihr besonderes Verhältnis auf und abseits der Bühne zu sprechen. Und eine Männerstimme gänzlich neuer Art bringt uns der brasilianische Sopranist Bruno de Sá näher, den Barockliebhaber schon mehrfach im Rahmen von Bayreuth Baroque erleben durften und der uns nicht nur mit seiner frappierenden Kunst, sondern auch im Gespräch aufzeigt, dass es noch einige Grenzen gibt, die in der Musik beseitigt werden müssten, um allen adäquat einen Platz zu bieten. Heißt es nicht immer, in der Oper zähle allein die Musik, wenn moniert wurde oder wird, dass die Violetta-Darstellerin nicht gerade einer jungen Kurtisane ähnele oder der Alfredo zu alt daherkomme? Gleichzeitig neigen wir nach wie vor dazu, mit zweierlei Maß zu messen, wenn unsere Sehgewohnheiten zu sehr beschnitten werden. Es heißt gespannt zu sein, wie viel Zeit es noch braucht, um dahingehend noch offener, toleranter zu werden und wirklich nur die Musik sprechen zu lassen.%weiter%
Die Gespräche mit Künstlern wie Bruno de Sá, die teils weite Wege, frühe Trennungen von ihrer Heimat und ihrem Familienverbund und große Mühen und vor allem auch finanzielle Risiken auf sich genommen haben, um das zu leben, wofür ihr Herz schlägt, sind immer wieder faszinierend wie inspirierend. Wie eine weitere Gesprächspartnerin dieser Ausgabe, die Bestsellerautorin Donna Leon, so treffend sagt: „Ich mag Musiker, weil sie mögen, was sie tun.“ Man kann in der Tat nicht genug Respekt vor dem Mut haben, den es erfordert, sich für die Kunst und gegen die Sicherheit einer Schreibtischexistenz zu entscheiden und entgegen seinem Lampenfieber immer wieder aufs Neue ins Rampenlicht zu treten. Gerade die Pandemie wird uns diesen Respekt noch einmal ganz neu abgenötigt haben. Und in unserer reizüberfluteten, von Bildschirmen betäubten und von diesen auch weitestgehend erschlossenen Welt sind diese Künstlerleben vielleicht auch die letzten Abenteurer-Vitae, die es gibt. Niemanden interessiert es noch, wenn im umgebauten Van ein Jahr lang die alte Seidenstraße entlanggereist wird oder jemand mutterseelenallein über den Atlantik segelt, und abenteuerliche Leben wie das einer Donna Leon sind schon deshalb seltener geworden, weil auch diese heute auf sämtlichen Kanälen sichtbare und selbst an den entlegensten Winkeln digital erreichbare Welt ärmer an Abenteuern geworden ist. Aber die Kunst, die Musik, das Mitfiebern mit den Akteuren auf der Bühne und im Graben, vermengt mit der tiefen Ehrfurcht vor dem Talent, wird uns sicher auch in ferner Zukunft noch unverändert in ihren Bann ziehen. Ich hoffe, dass wir Ihnen dieses Faszinosum auch in der neuen Ausgabe näherbringen können, und wünsche Ihnen zum goldenen Oktober ein abwechslungsreiches Lesevergnügen!||
Ihre Yeri Han