EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 9/2020
Wider Erwarten hat es einen Festspielsommer gegeben, und ausgerechnet das im Frühjahr noch so arg gebeutelte Italien hat es in Sachen Live-Musik zu einer erstaunlichen Renaissance gebracht. Macerata, Rom, Ravenna, Martina Franca, Neapel, Pesaro, Verona – an all diesen Orten kam das Publikum in den Genuss von Musik unter Beteiligung von teils hochprominenten Künstlern. Und nachdem man es im Zuge der frühen Bayreuther Absage kaum noch für möglich gehalten hatte, konnte dann sogar Salzburgs Jubiläumssaison zumindest in verkleinertem Umfang über die Bühne gehen, auch hier unter Begeisterungsstürmen eines dankbaren und sich akribisch an die gebotenen Regeln haltenden Publikums. Es geht also!
Weiter →Zeitgleich rüsten allerorts die Opernhäuser langsam, aber sicher für die neue Spielzeit, die, obgleich – zumindest im deutschsprachigen Raum – die meisten Türen wieder öffnen, noch immer unter dem Zeichen von Corona stehen und regional doch recht unterschiedliche Konzepte anbieten. Viele fahren gezwungenermaßen weiterhin auf Sicht und haben vorerst nur Programme bis zum Winter oder stark verkleinerte Produktionen fixiert, während etwa das Opernhaus Zürich alle seine Aufführungen plangemäß umsetzen will, sogar ausgefallene Produktionen der letzten Spielzeit nachholt, und sich hierfür an einem neuen Spielmodell probiert, bei dem das voll besetzte Orchester und der Chor aus einem externen Saal live in die Opernvorstellung zum Bühnengeschehen eingespielt werden sollen. Die Hamburgische Staatsoper stellte derweil in einer zweiten Pressekonferenz ihren mehrstufigen Etappen-Plan vor, der weniger auf außergewöhnliche Möglichkeit à la Zürich, stattdessen ausschließlich auf die Einhaltung von Abstandsregeln setzt und folglich gerade zu Saisonbeginn entsprechend stark reduziert ausfällt, sich aber nach Möglichkeit steigern soll.
Was letzten Endes tatsächlich möglich ist, wird wohl ohnehin erst der Verlauf von Herbst und Winter zeigen. Die Freude darüber, dass wieder gespielt wird, überwiegt zwar, doch gleichzeitig kommt immer mehr die Frage auf, wie lange gerade die reduzierten Konzepte vor spärlich gefüllten Sälen sich durchhalten lassen und inwieweit das „Wir sind wieder da“ mit einer minimierten Zahl an Akteuren und Musikern noch ein befriedigendes Gesamtkunstwerk, so wie man es im Opernsaal gern erleben möchte, darstellt. Das „Gesamtkunstwerk“ war auch der Hamburger Staatsoper die häufig genannte Rechtfertigung, sich gegen große Oper in erschlankter Form zu entscheiden und lieber auf ein Minibesetzung-konformes Ersatzkonzept zu setzen. Ist das auf Dauer genug? Oder sind wir, das Publikum, es, die von den Kulturpalästen inzwischen zu viel erwarten?
Was auch immer wir oder Sie, liebe Leser, auch als die persönlich favorisierte Lösung ansehen – es sind neugierig machende Zeiten, in denen Kreativität, Innovationsgeist und Mut – bei aller gebotenen Vorsicht – gefordert sind. Die wichtige Botschaft ist: Es geht weiter. Und wir freuen uns darauf, nach dieser unverhofft erfreulichen Festspielzeit als nächstes zu verfolgen und mit Ihnen zu teilen, welche Lösungsansätze die kleinen und großen Häuser zum Saisonstart anbieten.
Ihre Yeri Han