EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 9/2016
Dieser Sommer hatte es in sich. Analog zu den Kapriolen des fast schon provokativ unbeständigen Wetters, das uns mit seinem rasant wechselnden Mix aus Sonne und (zu) viel Regen, Gewitter und Sturm zwar so manches schöne Openair bescherte, etliche Veranstaltungen aber auch beeinträchtigte, wenn nicht gar verhinderte, sorgte die Oper selbst lebhaft für Abwechslung. Dabei waren es diesmal weniger Produktionen, die zu Diskussionen anregten, als vielmehr eine erstaunliche Serie hochkarätiger Besetzungsänderungen.
Weiter →Anna Netrebko hat sich nach unserem Gespräch in Paris Anfang des Jahres, in dem sie sich schon auffällig zurückhaltend geäußert hatte (OG 4/2016), dazu entschieden, den Belcanto-Olymp auszulassen und die Norma doch nicht in ihr Repertoire aufzunehmen. Die mit Spannung erwartete Bellini-Premiere wird Mitte September die neue Saison an Covent Garden eröffnen, für die Russin übernimmt – einmal mehr, und ebenfalls als Rollendebüt – Sonya Yoncheva, die ihrerseits im Sommer sowohl mit grandios abgelieferten Auftritten als auch mit abgesagten Vorstellungen für Aufsehen sorgte: Ihre Salzburger Thaïs übernahm Marina Rebeka, die zuvor schon als Einspringerin die Openair-»Traviata« in Hannovers Maschpark geadelt hatte; die Münchner Violetta dagegen sang Ermonela Jaho, die bald darauf in derselben Partie auch für Diana Damrau beim Festival in Orange einspringen sollte. In der Münchner »Traviata« gab es dann auch gleich noch einen prominenten Tenor-Wechsel: Pavol Breslik ersetzte den ursprünglich vorgesehenen Rolando Villazón als Alfredo… Dann waren da noch das umbesetzte Salzburger Nicolai-Highlight »Il Templario« und natürlich die besonders interessante Sopran-Rochade in der Münchner Festspielpremiere »La Juive«. Ganz zu schweigen vom in erstaunlichsten Niederungen durchdeklinierten Wechselspiel beim Bayreuther »Parsifal« in Sachen Regie- und Dirigentenpult mit all den in breiter Öffentlichkeit ausgetragenen Befindlichkeiten.
Reichlich Stoff zum Spekulieren. Aber Besetzungsänderungen bergen ja für das Publikum stets ein großes Potenzial für positive Überraschungen – ein nicht unwesentlicher Reiz der Live-Kunstform Musiktheater. Vielleicht haben auch Sie, liebe Leser, in der Festivalzeit die eine oder andere musikalische Entdeckung gemacht? Optionen zum Genuss gab es viele. Auch wenn dieser Sommer nicht zuletzt dadurch im Gedächtnis bleiben wird, dass er von den dunklen Wolken zunehmender Terrorbedrohung überschattet wurde. Schärfere Sicherheitskonzepte in praktisch allen europäischen Festspielorten waren sicht- wie spürbare Folgen, verbunden mit reichlich Unbehagen bei Veranstaltern und Publikum. Doch auch hier konnte man Erstaunliches erleben. Als mich im Juli eine meiner Festspielreisen just zur Zeit des Nizza-Anschlags nach Südfrankreich führte, beeindruckte mich neben einigen wirklich tollen Aufführungen ein aktuell so nicht erwartetes Lebensgefühl. Wie dort die einheimischen Zuschauer gemeinsam mit den Gästen aus aller Welt sich den in jenen Tagen ganz akuten tragischen Zwischenfällen zum Trotz immer wieder auf die reine Freude am Leben besannen und in (teilweise sehr) großen, ebenso internationalen wie multikulturellen Ansammlungen eines gemeinschaftlichen, verbindenden Erlebens von Musik, Oper, Kunst, Theater erfreuten – das waren wirklich Festspiele als Fest.