EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 9/2014
Ein Sommer der Entscheidungen. Monatelang war vom Grünen Hügel in Bayreuth nur beredtes Schweigen zu vernehmen gewesen in Bezug auf die Vertragsverlängerung von Festspielleiterin Katharina Wagner. Auch der zuständige Ministerialdirigent in München ignorierte jede Nachfrage konsequent. Verhandlungspoker bis zur letzten Minute. Dass der Vertrag nun endlich unterschrieben ist, gibt den Bayreuther Festspielen jene innerbetriebliche Ruhe und Planungssicherheit, die ein Veranstalter dieser Größenordnung so zwingend braucht. Andernorts blieben die wesentlichen Fragen ungeklärt.
Weiter →Die prestigeträchtigen französischen Sommerfestivals litten in diesem Jahr in besonderem Maße unter den Auswirkungen eines vorab nicht zu befriedenden Arbeitskampfes. Protestaktionen, massive Störungen, Streiks sorgten für teilweise chaotische Zustände, begleitet von geduldigem Verständnis, aber auch nicht selten von unverhohlener Missstimmung bei den teilweise von weit her angereisten Gästen. Über viele Jahre aufgebautes Vertrauen in Qualität und Konstanz ist eine ganz wesentliche Grundlage für den Erfolg derartiger Unternehmungen, und das Risiko, dieses zu verspielen, beträchtlich. Das muss auch bei arbeitspolitischen Konflikten stets von beiden Seiten im Blick behalten werden.
Das Renommee einer Kulturinstitution ist ein hochsensibles Gebilde aus vielerlei Faktoren. Ausgefallene Vorstellungen und ein verärgertes Publikum aber kann sich heute kein Veranstalter mehr leisten, auch nicht die ohnehin längst nicht mehr mit jenen glorreichen 90-prozentigen Auslastungszahlen der 1990er-Jahre auftrumpfende Metropolitan Opera in New York. Opernfans, vor Ort wie weltweit, standen da zwischenzeitlich vor der bangen Frage, ob der Kartenkauf für die ersten Saisonhöhepunkte, den neuen »Figaro« oder Anna Netrebkos Hausdebüt als Lady Macbeth, zum unkalkulierbaren Risiko mutieren könnte – „worst case“-Szenarien an Amerikas bedeutendstem Opernhaus. In einem hochdramatischen Showdown, der schon fast zum Opernplot taugte, konnten letztendlich offenbar doch noch Einigungen mit allen fünfzehn beteiligten Gewerkschaften erzielt und eine schon im Raum stehende Gefährdung der Saisoneröffnung im September abgewendet werden. Die teilweise hitzig und emotional geführten Debatten um die Zukunft der Met hatten zuvor originelle Blüten getrieben – aber auch grundsätzliche Fragen aufgeworfen wie die nach der richtigen Anzahl von Neuproduktionen und deren „angemessene“ Kosten, der Dauer einer Saison (bzw. der spielfreien Zeit dazwischen) und der Zumutbarkeit von „überlangen“ Opern. Hier hat insbesondere die mächtige Gewerkschaft der Orchestermusiker starke Scheite ins Feuer gelegt. Ob allerdings die leicht als generelle Absage an die Aufführung von Wagners »Ring« misszuverstehende Forderung der ebenso hochtalentierten wie hochdotierten Musiker des Met-Orchesters, in einer Spielzeit nicht mehr als zwei Produktionen von Opern mit Überlänge (> 4 h) spielen zu müssen, beim Publikum auf Verständnis stößt, darf bezweifelt werden. Individuelle Präferenzen mal außen vor: Wollten Sie, liebe Leser, dass allein aufgrund der Dauer entschieden würde, ob Sie »Holländer« oder »Parsifal« sehen dürfen? Oder „nur“ »Salome« statt »Die Frau ohne Schatten«? »Don Carlo« nur noch vieraktig, Barockoper und Grand Opéra, wenn überhaupt, rigoros gekürzt?
Grotesk anmutende Fragen, die durchaus auch bei uns die grundlegenden Themen berühren. Premierenanzahl, Repertoire, Spieltage und Spieldauer, Probenzeiten, Überstunden, Kosten – das alles muss neben den rein künstlerischen Fragen immer wieder neu durchdacht und hinterfragt werden, wenn Intendanten und Operndirektoren ihre Pläne schmieden für eine möglichst ausgewogene, vielfältige, für das Publikum ebenso attraktive wie für die Ausführenden „zumutbare“ Saison. Das ist eine große, verantwortungsvolle Aufgabe, die, wenn sie gelingt, auch in rechenbare Erfolge münden kann: Für die zurückliegende Spielzeit 2013/14 konnten in Deutschland, trotz auch hier zuweilen beträchtlicher finanzieller wie struktureller Probleme, überraschend viele Opernhäuser mit berechtigtem Stolz Rekordauslastungen vermelden. Was für eine wunderbare Bestätigung für die geleistete Arbeit – und welch positiv stimmende Motivation für die neue Saison. Herzlichen Glückwunsch!