EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 07-08/2024||Fußball-EM im eigenen Land – angesichts der seit Jahren wachsenden Katerstimmung und Resignation (zusätzlich unterstrichen durch den ernüchternden Ausgang der Europa-Wahl) hegen weite Teile der Medienbranche und auch der Gesellschaft die naive und an das 2006er-„Sommermärchen“ angeknüpfte Hoffnung, dass dieses große Sportfest ein paar der durch unsere Mitte verlaufenden Gräben zumindest vorübergehend kitten kann; ein kurzes, aber dringend benötigtes Aufatmen einer gestressten und in ihrer permanenten Überforderung ein Ventil suchenden Gesellschaft. Immer wieder hält die Kulturbranche in diesem Zusammenhang ihre Kunstformen und Institutionen als solches Pflaster für schwindende Muße und Zusammenhalt hoch; und auch in den Interviews dieser Festspiel-Doppelausgabe, mit der wir Sie möglichst gut unterhalten in die anstehende Sommerpause entlassen werden, ist der besorgniserregende Zustand, in der die Weltgemeinschaft sich angesichts von existenziellen und ideologischen Problemen befindet, Thema: als eine „hochproblematische Zeit“ bezeichnet etwa Thorleifur Örn Arnarsson, der Regisseur des neuen Bayreuther »Tristan« die Gegenwart, und auch ein weiterer Bayreuth-Debütant, Mirko Roschkowski, stellt ganz richtig und auf den Punkt gebracht fest: „Unsere Gesellschaft hat inzwischen ein großes Empathieproblem“.%weiter%Dass ein Theaterbesuch uns geradezu vollzutanken vermag mit Emotionen, uns bis zum Tränenvergießen mitfühlen und -leiden, aber auch herzlich mitlachen lassen kann, muss ich Ihnen, liebe Opernglas-Leser, nicht erzählen – aber genau dies zeigt auch, dass ich an dieser Stelle zu einer Blase spreche, die spätestens seit der Pandemie vor einigen Umwälzungen und Ausrichtungsproblemen steht, in der auf der einen Seite zu sehr an alten Strukturen festgehalten, auf der anderen Seite bei so manchem Neuerungsprozess aber auch überstürzt anmutende Entscheidungen getroffen werden, die die Kunstform nur bedingt weiterbringen. So wird oft an den falschen Stellen gespart, an anderen beharrlich, wo sich sehr sinnvoll verschlanken ließe, weiter unnötig viel Geld ausgegeben, ganz in guter alter Bürokraten-Beamten-Manier. Umso aufmerksamer verfolgt man die diversen Leitungswechsel, die sich seit einiger Zeit an vielen Theatern vollziehen, und erhofft sich von den neuen, jüngeren Personalien dringend die wichtigen Reform-Impulse, die dieses große Kulturgut, auf das Europa zu Recht stolz ist, benötigt – mit zukunftsfähigem Rüstzeug, angeführt von transparent in ihre Positionen gewählten Menschen mit einem tatsächlichen, nicht nur medienwirksam zitierten Draht in die Gesellschaft, für die und innerhalb der sie spielen. Andernfalls bleiben wir die losgelöste Bubble, als die das Musiktheater von so vielen noch immer wahrgenommen wird, und können nicht die Funktion erfüllen, die das Theater – wenn gut gemacht – so vollkommen zu erfüllen imstande ist: das Erzeugen von Gemeinschaft durch ein kollektives Live-Erlebnis, von Gefühlen, von Inspiration, der dringend benötigten Muße, die das Smartphone uns erfolgreich aberzogen hat.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen nicht nur eine erfolgreiche und stimmungsvolle Fußball-EM (denn wir alle würden uns doch freuen, wenn sich ein zweites Sommermärchen heraufbeschwören ließe), noch mehr aber eine abwechslungsreiche, Gefühle wie Gedanken anregende Festspielzeit, in der fantastische Musik und gutes Wetter uns schöne Erinnerungen an einen tollen musikalischen Sommer bescheren.||
Ihre Yeri Han