EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 07-08/2022 | Ein Jahr geht schnell vorbei, stellt man immer wieder fest, und das nicht nur anhand des gefühlt immer schneller wiederkehrenden Weihnachtsfestes – für uns ist ein weiterer Marker die alljährliche Doppelausgabe, mit der wir die Spielzeit ausklingen lassen und den Festspielspielsommer einläuten. Dieses Einläuten hat sich seit der Corona-Pandemie stets auch ein wenig mit angezogener Handbremse vollzogen, was den Enthusiasmus-Faktor anbelangt, zumal die Krisen und nicht zu ignorierenden Probleme sich vermehrt haben und die generelle Zufriedenheit entsprechend nicht gerade gewachsen ist. Katerstimmung herrscht hier und da – ähnlich wie in anderen Branchen, wo erst jetzt die Lücken und Versäumnisse der Corona-Zeit zutage treten – auch an den Opernhäusern, in denen noch immer zahlreiche Plätze frei bleiben und Fragen aufwerfen. %weiter% Ist in den zwei Jahren vielleicht eine Lücke in der Nachfrage entstanden? Und braucht diese Nachfrage lediglich ein wenig mehr Zeit, um zu alter Kraft und dem nötigen Zutrauen zurückzufinden, oder manifestiert sich nun etwas, was zuvor lediglich befürchtet wurde? In diesem fraglichen Momentum liegt aber auch eine große Chance, so abgedroschen das klingen mag, denn es gibt dem Neudenken, das so viele in dieser Szene seit längerem beschäftigt, möglicherweise den nötigen Schub, um endlich großflächig umgesetzt zu werden. Das betrifft nicht nur die dringend notwendige Diversifizierung vor und vor allem auch hinter der Bühne, sondern auch das Repertoire, wie schon im Gespräch mit Jan-Henric Bogen in unserer letzten Ausgabe deutlich wurde und nun auch im Titelinterview mit Cornelius Meister in dieser Nummer Thema ist. Es muss sich ein natürlicherer, unverkrampfterer Umgang mit zeitgenössischen Musiktheaterkreationen einstellen und nicht jedes Auftragswerk darauf spekulieren, ein „moderner Klassiker“ werden zu wollen, auch wenn eine Befreiung vom Werkstattcharakter, der vielen modernen Konzepten anhaftet, vielleicht begrüßenswert wäre. Hier liegen eben die Geschichten, die neuen Blickwinkel, die bestenfalls imstande sind, dem Zuschauer etwas zu geben, wie unser Titelkünstler es so treffend auf den Punkt bringt. Und in einer Zeit, in der zunehmend Generationen in die Mitte der Gesellschaft nachrücken, denen man so gern nachsagt, dass sie ihr eigenes Leben verstärkt auf den Mehrwert, die seelische Selbstoptimierung und die richtige Balance überprüfen, ist das vielleicht eine zentrale Frage, um ihnen „etwas zu geben“, das anders und dennoch berührend ist.
Verschiedenste Blickwinkel versammelt auch diese Festspielausgabe – den weiblichen, sowohl auf der Bühne als auch aus dem Orchestergraben, wenn Laurence Equilbey, eine Vertreterin der Dirigentinnen-Vorreitergeneration, zu Wort kommt; auch der Blick auf die anstehenden Festspiele darf mit Markus Eiche, dem allmählich mit seinem ersten Wotan liebäugelnden langjährigen Bayreuth-Gast, und Verona-Star Liudmyla Monastyrska, die einen ergreifenden Einblick in ihr aktuelles zerrissenes Leben zwischen Bühne und Krieg gibt, nicht fehlen.
Liebe Leser, so existenziell fordernd diese Gegenwart für viele auch ist: Ich hoffe, dass der Festspielsommer Ihnen den ein oder anderen Moment ungetrübter Freude zu schenken vermag, wenn dieses Genre eine seiner mehr denn je geschätzten Meriten ausspielt: mehrstündiges Versinken in einer anderen Welt, einer fremden Geschichte, in berauschenden oder vielleicht auch kryptischen Bildern, die uns die Bilder des eigenen Lebens vergessen lassen und auch nach dem Wiederangehen der Lichter eine Weile begleiten. ||
Ihre Yeri Han