EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 05/2024|Ganz langsam rückt sie in Sichtweite, die Zeit der Opernfestspiele, und mit ihr die wohltuende Aussicht auf milde Sommernächte, in denen man vor allem in südlicheren Gefilden unter freiem Himmel große Oper genießen kann. Wie immer fällt der Startschuss in den Sommer im schweizerischen St. Gallen, wo der Wettergott auch im Juni schon meistens gnädig ist, wie die vergangenen Jahre gezeigt haben. In diesem Jahr stellt erstmals nicht der ehrwürdige Stiftsbezirk die Kulisse für die Festspielproduktion, denn: Es geht tief in den Kanton hinein und hinauf in die Berge, wo Purcells »Fairy Queen« ganz stilecht vor dem Panorama der imposanten Bergketten, wie nur die Schweiz sie aufbietet, und inmitten von Bergwiesen ihre naturalistische Magie entfalten soll.%weiter%
Natur und Oper – auf den ersten Blick vielleicht ein Widerspruch, denn wenig an dieser Kunstform ist zunächst natürlich, sondern im Gegenteil hoch artifiziell, vom künstlerischen Ausdruck bis hin zu den aufwändigen Ausstattungsgebilden. Gleichzeitig schließt sie an einer geheimnisvollen Stelle den Kreis so vollständig wie keine andere Spielart der Kunst, spricht so unmittelbar zu uns wie keine ihrer Cousinen und wird – wenn man es richtig macht – plötzlich wieder zu etwas ganz Natürlichem, ohne dass man sich erklären könnte, wie das zustande gekommen ist. Es bleibt die ewige Geheimrezeptur des einmaligen Opernabends. Denn wie der Tenor Rodrigo Porras Garulo ganz richtig sagt: Das Musiktheater ist eine Kunstform, die jeden Abend neu entsteht. Auch in diesem immer wieder aufs Neue Geboren-Werden liegt eine ganz eigene naturalistische Magie: Genau in dieser Knospe der schlummernden unendlichen Möglichkeiten birgt das Musiktheater noch immer die elektrisierende Dynamik sich neu zu erfinden und weiter zu evolvieren. Evolvieren heißt aber nicht automatisch avantgardistische Überforderung – wer genau hinhorcht, stellt fest, dass vieles gar nicht so neu ist, sondern vielmehr eine Neu-Auflage.
Weder die Abwendung zunehmend vieler Sänger vom traditionell gewordenen Fach-Denken hin zu einer Rückbesinnung auf die Karrieren eines anderen Jahrhunderts, wie Lohengrin-Debütant Michael Spyres es seit Jahren sehr erfolgreich tut, noch die Multidisziplinarität, die an immer mehr Häusern Einzug hält und damit im Grunde ebenfalls an die Vergangenheit anknüpft. Nur eben anders. Und muss es mit Tanz und Spoken Word als natürlichen Weiterentwicklungen des Balletts und Singspiels enden? Wenn wir das Musiktheater als die Schnittstelle zwischen den Künsten betrachten, die sie ist, ergibt sich eine endlose Fülle an Möglichkeiten, die man nicht limitieren, sondern selbstverständlich neugierig zulassen sollte, in immer neuen Kombinationen, Ausbalancierungen und Ausdrucksformen. Warum immer das gleiche machen, wenn man auch frei sein und sich auf dieser großen Spielwiese austoben kann, fragt sich auch unsere Titelkünstlerin Sonya Yoncheva – und man kann ihr nur Recht geben. Je liberaler, vielfältiger und überraschender es in dieser Branche zugeht, desto mehr profitieren doch auch wir Zuschauer. Oder wollen Sie, liebe Leser, jeden Tag das gleiche?
In diesem Sinne hoffe ich, dass auch diese wieder einmal prall mit Interviews und Berichten gefüllte Mai-Ausgabe Sie inspiriert, neue Blickwinkel eröffnet und Appetit auf den nächsten Opernbesuch macht.||
Ihre Yeri Han