EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 5/2015
Der Schock saß und sitzt immer noch tief. Wenn das Leben eines uns nahestehenden Menschen viel zu früh genommen wird, sind Trauer, Entsetzen, Fassungslosigkeit so groß, dass der Schmerz über den Verlust und die entstandene Leere lange, sehr lange unser Leben begleiten und prägen wird.
Weiter →Dass sich bei dem Flugzeugabsturz in den südfranzösischen Alpen das tragische Einzelschicksal 150fach multiplizierte, macht den Verlust nicht um einen Deut erträglicher. Aber es sorgte für eine so weitgreifende, tiefe Bestürzung, dass die betroffenen Angehörigen durch eine überwältigende, weltweite Anteilnahme vielleicht ein wenig aufgefangen wurden in ihrer Trauer.
Der Schock war auch deswegen besonders groß, weil uns die Katastrophe so nahe gekommen ist. Eine viel genutzte Flugstrecke, eine der meistbesuchten Großstädte Europas, ein hochfrequenter deutscher Zielflughafen. Dass Barcelona neben allen touristischen Attraktionen auch eine große Kulturstadt mit einem bedeutenden Opernhaus ist, dürfte der Weltöffentlichkeit kaum je schmerzhafter in Erinnerung gerufen worden sein als an diesem Vormittag des 24. März 2015, als mit Maria Radner und Oleg Bryjak gleich zwei Opernsänger von Rang ihr Leben lassen mussten. Sie waren auf dem Rückweg von ihren Gastauftritten am Gran Teatre del Liceu. Ein schwerer Verlust, nicht nur für die Familien, Freunde, Kollegen.
Wie nah liegen doch die alles entscheidenden Dinge beieinander. Aus Barcelona reiste an jenem Tag ein Großteil der beiden alternierenden »Siegfried«-Besetzungen nach der am Abend zuvor am Liceu ausgelaufenen Serie ab, die meisten mit dem Flugzeug, einige nach Deutschland, auch nach Düsseldorf. Öffentliche Erkenntnisse darüber, ob auch Opernbesucher unter den Opfern sind, gibt es nicht. Die Möglichkeit ist ebenso groß wie die, dass andere Kulturreisende schlichtweg Glück gehabt haben. Ein jeder von uns, der sich viel auf Reisen befindet, wird in diesen traurigen Tagen Ende März ein höchst beklemmendes Gefühl gehabt haben.
Zu jener Zeit waren, wie praktisch in jeder Woche, auch viele „Opernglas“-Mitarbeiter unterwegs, diesmal nicht von oder nach Barcelona, aber zu diversen anderen Opernhäusern weltweit; in den unmittelbar folgenden Tagen startete praktisch die halbe Hamburger Redaktion zu wichtigen Premieren, sei es nach Salzburg, Wien, Paris. Das Reisen gehört zur Oper. Michael Fabiano bezeichnet gar im aktuellen Gespräch das Gepäck als sein Zuhause. Ohne das Flugzeug, das trotz allem statistisch gesehen das sicherste Verkehrsmittel bleibt, wäre der internationale Opernbetrieb so nicht möglich. Weltkarrieren, wie wir sie heute kennen, mögen geprägt sein von Multimedia und Internet; real werden sie allein durch die zeitnahe Überbrückung großer Distanzen – und durch Künstlerpersönlichkeiten, die die Strapazen und Einschränkungen eines solchen Nomadenlebens in Kauf nehmen, sehr häufig verbunden mit dem Verzicht auf ein eigenständiges Privatleben. Daran sollten wir alle, die wir von diesen Künstlern oft so überreich beschenkt werden, uns hin und wieder erinnern.
Aufhorchen lassen in den vier Interviews dieser Ausgabe noch einige interessante Sätze mehr. Während beispielsweise Fabiano vehement eine stärkere Wertschätzung für die Sänger einfordert und sich dabei auch sehr deutlich für einen weniger hysterischen Regie-Zirkus einsetzt, betont mit Beat Furrer ausgerechnet ein Komponist, dass man die imaginäre Kraft eines Regisseurs eben nicht einschränken darf. Und ergänzt selbstbewusst: „Der Reichtum eines Stückes stellt sich letztendlich auch in verschiedenen Inszenierungsmöglichkeiten dar.“
Recht haben sie ganz gewiss beide, denn künstlerische Offenheit und Respekt vor dem Werk schließen sich in keiner Weise aus. Nimmt man es genau, bedingen sie sich sogar. Titelkünstlerin Marlis Petersen weitet den Begriff der Offenheit zudem auf das Akustische. Hörerwartungen prägen uns ja in der Tat noch deutlich mehr als Sehgewohnheiten. Es ist eine Herausforderung, die mit jeder Produktion neu angenommen wird, von Sängern und Musikern, von Dirigenten und Regisseuren – und vom Publikum. Zu welch grandiosen Ergebnissen das führen kann, lesen Sie auf den nachfolgenden Seiten.