EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 4/2021
Man hatte es bereits vermuten können – das Liebäugeln mit Wiedereröffnungen ab April, das hier und da in der Luft lag, war sehr kühn, fast schon verwegen. Hamburg hatte bereits auf Live-Vorstellungen vor Publikum im April hin geplant, unter anderem hätten die »Fle-dermaus« und »Manon« endlich ihre Premiere vor Zuschauern erleben sollen; und Berlin befindet sich aktuell in einem Pilotprojekt, das Kulturveranstaltungen unter strenger Anbindung an ein Testprogramm für alle Teilnehmer auf ihre Infektionsgefahr hin überprüft. Die Deutsche Oper beteiligt sich mit ihrer bereits im Livestream gezeigten »Francesca da Rimini«, die Lindenoper mit einem neuen »Figaro«, die begrenzten Kartenkontingente waren im Nu ausverkauft, die Nachfrage nach einer Rückkehr in die Musiksäle ist erwartet hoch.
Weiter →Doch die Hansestadt hat nach einer 3-Tage-Inzidenz über 100 den jüngsten Lockerungsschritt schon wieder zurückgerufen, Hamburgs Museen schließen also nach gerade mal einer Woche direkt wieder, der Einzelhandel kehrt zum Click & Collect zurück – die stets in den Startlöchern und weiterlaufenden Proben befindlichen Opern- und Konzerthäuser wiederum stehen ein weiteres Mal bei Null. Es gehe empfindlich an die Substanz, sagt Hamburgs Intendant Georges Delnon. Den Apparat eines Hauses wieder und wieder auf einen eventuellen Tag X hin in sofortige Bereitschaft zu versetzen, nur um dann wieder alles in den Standby-Modus herunterzufahren, ist in der Tat ein ungesunder Rhythmus, der innere wie äußere Ressourcen über die Maße beansprucht. Dann doch lieber von Beginn an in länger gezogenen Zyklen denken, die den Betroffenen im Gegenzug eine weniger willkürlich, verzweifelt kurzsichtig anmutende Perspektive und endlich Planungssicherheit gewähren. Auch die Schweizer Mezzosopranistin Eve-Maud Hubeaux spricht in unserem großen Interview offen über die Belastung, die ein permanentes „Fahren auf Sicht“ mit sich bringe – Motivation fällt zunehmend schwer, die Frustration droht selbst bei der positivsten Grunddisposition der Seele überhand zu nehmen.
Ist diese Spielzeit – zumindest in Deutschland – nun tatsächlich schon gelaufen? Sicherlich wird es hier und da Ausweichprogramme der Häuser geben, die das, was übers Jahr den Schließungen anheimgefallen ist, im Sommer aufzufangen versuchen. Aber was wird im Sommer wo und unter welchen Bedingungen möglich sein?
Der Kultursektor mag in der Volkswirtschaft vielleicht eines der kleineren Tortenstücke darstellen – für die seelische Substanz einer Gesellschaft ist sie aber von essenzieller Bedeutung. Man kann daher nur hoffen, dass in den sich länger und länger streckenden Monaten der nicht immer stringenten Pandemiebekämpfung nicht zu viele Chancen und Bildungsaufträge verloren gehen und im Nachgang keine schleichende Dürre auf uns zukommt.
Wir bleiben zuversichtlich, und ich wünsche Ihnen und uns allen weiterhin offene Herzen und Ohren – und eine inspirierende Lektüre der folgenden Seiten.