EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 4/2014
Es muss konstatiert werden, dass augenscheinlich sehr unterschiedliche Vorstellungen über die notwendige Kultur zur Führung eines großen europäischen Opernhauses existieren.“ – Ein schöner Satz, den sich das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen da ausgedacht hat. Insbesondere „notwendige Kultur“ ist ein bewusst spitzfindiger Seitenhieb auf den noch vor Amtsantritt geschassten Intendanten der Sächsischen Staatsoper, dem das Ministerium in diesem Statement mit harschen Worten die komplette Verantwortung für eine singulär frühzeitige Vertragsauflösung zuweist.
Weiter → Vollkommen anders sieht das Serge Dorny selbst – dem wiederum Staatskapellenchef Christian Thielemann eifrig widerspricht; und aus den Kollektiven des traditionsreichen Opernbetriebes an der Elbe vernimmt man dazu noch einmal ganz andere Meinungen und Stimmungen. Eine in den Brunnen gefallene Medaille mit mindestens zwei Seiten.
Das Argument von Kunstministerin Sabine von Schorlemer, Schaden von der Oper abwenden zu wollen, ist obsolet angesichts der in allen Belangen negativen Außenwirkung dieses so spektakulär in den Sand gesetzten Engagements. Nicht nur der Ruf der Semperoper ist beschädigt, auch die nun erneut beginnende Nachfolgersuche wird schwierig sein. Welcher Bewerber mit Kompetenz, Erfahrung und den so dringend benötigten Visionen für das touristisch so beliebte Architekturjuwel wird nach diesem Vorspiel die Kohlen aus dem Feuer holen wollen? Und ein (vermutlich kostspieliger) Rechtsstreit durch eine Anfang März eingereichte Klage Dornys nimmt bereits seinen Lauf. Da dürften wohl noch einige Details ans Licht kommen. Ungeachtet jedweder anzunehmenden kommunikativen und/oder menschlichen Disharmonie zwischen den Beteiligten lasen sich die Analysen und Strategien des vorzeitig entmachteten Dresdner Opernintendanten ja keineswegs unklug, im Gegenteil. Aber wie heißt es nun so schön: „Es existieren unterschiedliche Vorstellungen.“
Eine Formulierung, die man unschwer auch auf andere akute Fragen in der deutschen Theaterszene anwenden kann. Diese ist derzeit beträchtlich in Unruhe geraten insbesondere durch die Entscheidung der neuen Intendanz der Wuppertaler Bühnen, ab der kommenden Saison auf Stagionebetrieb umzustellen. Angesichts des so traditionsreichen wie -gewinnbringenden Ensembletheaters in Deutschland eine zu Recht kritisch aufgenommene und hochemotional diskutierte Nachricht, die manchem als Fanal für einen Anfang vom Ende erscheinen will.
Zweifellos ist unser historisch gewachsener Ensemblegedanke, der zudem inmitten einer in dieser Dichte weltweit einmaligen Theaterlandschaft gedeiht, eine Errungenschaft. Nicht umsonst wählen junge Sänger und Dirigenten aus aller Welt just hier ein Engagement, um in einem festen Ensemble Erfahrungen zu sammeln und künstlerisch zu reifen. Auf die Entwicklungen in Wuppertal, wo künftig ausschließlich Gäste ein höheres musikalisches Niveau der Produktionen sichern sollen, wird man daher umso genauer schauen. Doch auch wenn der eine oder andere Intendant sicher schon mit dem Gedanken spielt, vielleicht selbst in ähnliche Richtungen zu gehen: Ein größeres, gar flächendeckendes Aussterben des Ensembles befürchte ich nicht. Und sollte sich das Experiment durch die Qualität des auf der Bühne Gebotenen tatsächlich beweisen, wäre es ein Sieg der Kunst – ganz unabhängig vom dahinterstehenden System.
Bei weitem Besorgnis erregender ist für meine Begriffe der zunehmende politische Gleichmut. Einsparpotenziale werden seit Jahren geradezu reflexhaft und ohne erkennbare Bedenken immer wieder bei den Künsten gesucht. Nur so entstehen ja erst die – keineswegs neuen! – Gedanken zu Stagionebetrieb, Fusionierungen, Orchesterreduzierungen, Spartenabwicklungen. Gleichwohl müssen neue Lösungen her angesichts einer vielerorts erschreckend hohen Anzahl frei bleibender Plätze in den Opernhäusern. Das Theater Dessau, das auch davon ein Lied singen kann, hat gerade bewiesen, wie kreativ und publikumswirksam man Flagge zeigen und kulturpolitischen Protest anbringen kann. Volles Haus und volle Zustimmung für diese „Bettleroper“, die doch auch eines ganz deutlich macht: Ohne Sie, liebe Leser, ohne ein interessiertes, engagiertes Publikum, das sich mitreißen, begeistern und auch gern mit Neuem, Ungewohntem überraschen lässt, nützt auch das größte künstlerische Bemühen nichts. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende, zu (noch) mehr Opernbesuchen verführende Lektüre!