
EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 03/2025||Es herrscht Endzeitstimmung – damit meine ich nicht nur das Geschehen, das die Nachrichten auf deprimierende Weise dominiert; auch auffallend viele Neuinszenierungen der letzten Zeit werfen den Zuschauer in eine Welt, in der mal mehr, mal weniger explizit Dinge aufscheinen, die wir aus den täglichen Nachrichten bereits kennen; Superreiche, die sich vor den beunruhigt, aber gleichzeitig mit kläglicher Ratlosigkeit zusehenden Augen der restlichen Weltgemeinschaft die Realität nach ihrem Gusto bauen, und auch der Seitenhieb auf Donald Trump darf natürlich nicht fehlen. Die grenzenlose Macht des Geldes, Machtmissbrauch, der gefährliche Sog von populistischer Suggestion, anarchische Verrohung von Gemeinschaften, das Grauen von Terror und Krieg – das sind die er- und aufschreckenden roten Fäden, die sich durch die Produktionen ziehen, über die wir in dieser Ausgabe berichten. Und da soll einer sagen, Oper sei nicht zeitgemäß. Die Reflektionen der Ausführenden zeigen auf kreative und ernüchternde Weise wieder einmal, wie wenig die Menschheit sich in den Kernfragen offenbar verändert und wie sich in zyklisch anmutenden Wellen Dinge wiederholen beziehungsweise wir in überwunden geglaubte Ansichten und Reaktionen zurückverfallen.%weiter% Da hält uns die Kunst – so wie die Geschichte selbst – einen lebhaften Spiegel vor, wenn sie uns mit jahrzehnte- bis jahrhundertealten Werken beweist, wie manche Dinge sich (fast) verlustfrei durch die Epochen transportieren lassen. Im Licht solcher Rückblenden fragt man sich im nächsten Schritt: Worauf steuern wir wohl zu? Was liegt noch vor uns?
Gerade angesichts der vermeintlichen Wahrheiten und Schein-Realitäten, in denen bestürzend viele Menschen nicht mehr imstande zu sein scheinen, Unwahres von Wahrem zu unterscheiden, geschweige denn die Bereitschaft aufbringen, eigenständig vervollständigende Kontexte zu recherchieren, überkommt einen in der Tat ein dystopischer Pessimismus, was die Zukunft unserer Spezies anbelangt. Möge die Kunst uns als letzter Spiegel unserer selbst und Insel der hochqualitativen gelebten Schönheit erhalten bleiben.
Ein wenig im Geist dieser verschiedenen Stimmungen sprechen auch unsere Interview-Gäste mit uns und Ihnen – Titelkünstler Kartal Karagedik, der uns Hamburgern schon lange ein vertrautes Gesicht ist, sich seit einigen Jahren aber auch auf europäischen Bühnen als Gast einen Namen macht, hat sich auf seinem Debüt-Album mit sich von Stunde eins an durch die Menschheit ziehenden Themen befasst und tief in unsere Seele geblickt; währenddessen betont Semperopern-Intendantin Nora Schmid die Verantwortung des Musiktheaters, relevante Themen auf der Bühne zu verhandeln, und Stefan Pop, obwohl noch nicht einmal vierzig schon Tenor-Veteran auf den großen Bühnen, zaubert uns und hoffentlich auch Ihnen, liebe Leser, mit seiner großen Liebe für schöne Melodien und den Zauber einer vergangenen Opern-Ära erfolgreich ein Lächeln auf die Lippen – da hofft man in der Tat, dass sich ein paar weitere Tenor-Kollegen ein Herz fassen und uns die „Drei Tenöre 2.0“ bescheren. Zu einem musikalischen Sonnenstrahl und leichtfüßigem Schwelgen hat noch niemand Nein gesagt – um es mit den Worten unseres Titelkünstlers zu sagen: Licht und Schatten sind überall. Und damit entlasse ich Sie nun auch in die Seiten dieser zwischen jenen beiden Polen schwebenden Ausgabe, in der Hoffnung, dass Sie selbst im Schatten immer auch das Licht nicht aus den Augen verlieren.||Ihre Yeri Han