
EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 11/2025||An einigen Häusern haben mit dieser Spielzeit neue Intendanten ihre Arbeit begonnen – und zumindest im deutschsprachigen Raum wird hierbei sicherlich besonders aufmerksam der Beginn der Tobias-Kratzer-Ära in Hamburg beäugt. Man erhofft sich einiges von diesem Regisseur, auf den sich alle, so scheint es, irgendwie zu einigen imstande sind, und er hat in der Tat für viel frischen Wind beim Spielzeitauftakt gesorgt. Der gemeinsame Nenner beim Einläuten der verschiedenen neuen Amtszeiten in den unterschiedlichen deutschen Städten scheinen wir, das Publikum, gewesen zu sein. Man bemüht sich um „seine“ Stadt, seine potenziellen Zuschauer, versucht sie mit einladend ausgestrecktem Arm zu erreichen – ein freundliches „kommen Sie gern näher!“.%weiter%
Ganz sicher gibt es noch sehr viele, die man mit dem richtigen Hebel interessiert zum Näher-Kommen bewegen und in deren Leben man dauerhaft zu dem Mehrwert werden kann, der Kultur und insbesondere klassische Musik zweifelsohne ist. Und gleichzeitig zweifelt man selbst als Opernliebhaber angesichts der aktuellen Weltlage und gesellschaftlichen Anspannung immer wieder, wenn man sieht, wie viele es gleichzeitig auch gibt, bei denen der Besuch einer Opernvorstellung sicherlich ganz weit unten auf ihrer To-Do-Liste steht – wenn er es überhaupt auf so eine Liste schafft, und das ist nicht im Mindesten despektierlich gemeint, sondern voller Sorge und Mitgefühl für Lebensrealitäten so fernab von unseren, dass man sich auch bei voll aufgedrehter Empathie nicht mehr ganz hineinversetzen kann in dieses bittere und verbitterte Gefühl des Abgehängt-Worden-Seins und nicht mehr Gesehen-Werdens. Gibt es einen Weg jenseits „aber wir bieten doch vergünstigte Karten an“, auch diese Menschen zu erreichen (denn vermutlich hat ein Großteil von diesen auch die einladenden Initiativen zur Saisoneröffnung nicht bewusst verfolgt) und glaubhaft zu vermitteln, dass die sogenannte Hochkultur kein hedonistisches Luxusprodukt für herausgeputzte Senioren ist, sondern so viel mehr? So wie Vivian alias Pretty Woman – entschuldigen Sie dieses abgedroschene Beispiel – von einer »Traviata« zu Tränen gerührt wurde, kann auch das Musiktheater ein Kanal sein, der in einer in fast jeder Hinsicht tief gespaltenen Gesellschaft wieder Brücken baut und unverhoffte Gemeinsamkeiten zutage befördert. Oder um ein bildungsbürgerlicheres Beispiel heranzuziehen: Erinnern Sie sich an „Rhythm is it!“, den Film zum Education Projekt der Berliner Philharmoniker, wo Schüler aus unterschiedlichsten Berliner Schulen zusammen zu Strawinskys „Le sacre du printemps“ tanzten? Schülerinnen aus sogenannten Brennpunktschulen, die davor nie mit klassischer Musik in Berührung gekommen waren, entwickelten nicht nur Interesse, sondern mit jeder Probe auch wachsenden Ehrgeiz und Leidenschaft, sodass sie – der etwaigen Scham ihren Klassenkameraden gegenüber zum Trotz – in fortgeschrittene Tanzgruppen wechselten, wo sie sich den skeptischen Blicken der anderen Elevinnen aussetzten und ihnen aber auch tapfer standhielten – weil sie das wollten.||
Kultur kann mehr als nur ein abendliches Event sein – Kultur kann ganz neue Perspektiven eröffnen, die klein geglaubte Welt aufbrechen, neue Gefühle im vielleicht bitter gewordenen Herzen entfachen. Können wir das nicht doch noch etwas besser und noch menschennaher vermitteln?
Wir werden gespannt verfolgen, was sich in der Theaterlandschaft tut, wie die „Neuen“ vor dem Hintergrund ihrer individuellen Erfahrungen und Bedürfnisse Veränderungen bewirken, so wie unser Gesprächspartner Valentin Schwarz, der im Team in Weimar für neue, zukunftsfähige Strukturen sorgen will. Die Zukunft wird zeigen, wohin wir unterwegs sind, ob die Säle sich weiter leeren oder wieder stärker füllen. Wir hoffen, dass Sie mit an Bord bleiben – und wünschen für den Moment eine geruhsame Lektüre der folgenden Seiten!||
Ihre Yeri Han