EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 2/2020
Um Ludwig van Beethoven kommt dieser Tage niemand herum – jährt sich Ende dieses Jahres am 17. Dezember doch sein 250. Geburtstag. Angesichts seines übersichtlichen Œuvres in Sachen Oper müssen Musiktheater-Schaffende dieser Tage jedoch kreativ sein, wenn es denn mehr als „nur“ ein »Fidelio« sein soll. So kann man ab Anfang Februar in Wien an der Staatsoper sowohl die Urfassung »Leonore« als auch im April dort dessen »Fidelio« erleben, während das Theater an der Wien in dieser Spielzeit neben einer Neuproduktion des »Fidelio« im März mit gleich zwei Uraufführungen zum Thema aufwartet: der »Egmont«-Uraufführung von Christian Jost im Februar und der Kammeroper »Genia« im März.
Weiter →Große Jubiläen sind traditionell eine gute Gelegenheit nicht nur für Kulturbetriebe, den Blick weiter zu öffnen und von möglicherweise allzu bekannten Hörgewohnheiten abzuweichen. Auch der Abnehmer, der sonst Gefahr läuft, aus Bequemlichkeit oder Gewohnheit auf altbekannten Pfaden zu wandeln, kann und sollte immer wieder neu auf Entdeckungsreise gehen – Inspira-tion und Anregung warten an jeder Ecke, wenn man genau hinsieht. Auch ich erlebe das immer wieder und staune jedes Mal aufs Neue über den geradezu elektrisierenden seelischen Stimulus, den man bei einem neuen musikalischen Aha-Erlebnis verspüren kann. Ian Bostridge, der in dieser Ausgabe den ersten Beitrag seiner vierteiligen „Opernglas“-Kolumne zum Beethoven-Jahr vorstellt, brachte mich auf eine BBC-Kultursendung, die 1942 erstmals im BBC-Radio gesendet wurde, heute aber auch als Download sowie Podcast verfügbar ist: Auf „Desert Island Discs“ benennen wöchentlich prominente Gäste aus Politik, Kultur, Wissenschaft, Kino im Laufe eines Gesprächs acht Aufnahmen, die sie auf die berühmte „einsame Insel“ mitnehmen würden; am Ende müssen sie sich für eine einzige entscheiden. Die etwa halbstündigen Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Jacqueline du Pré, Alfred Brendel, Joyce DiDonato oder Marin Alsop, um nur einige zu nennen, wecken Erinnerungen an faszinierende musikalische Momente, historische Interpretationen, erinnern einen vereinzelt aber auch zum eigenen Beschämen daran, dass die persönliche musikalische Bibliothek noch längst nicht vollständig ist und man ihr immer wieder neue Inhalte hinzufügen kann. Manchmal geschieht das in Form von erfrischenden Neubetrachtungen eines Werkes oder einer bestimmten Passage, häufig aber auch durch die Erkenntnis, dass man ein bestimmtes, einen schon nach -wenigen Tönen instinktiv und zutiefst bewegendes Beethoven-Quartett bisher noch gar nicht kannte, nun aber mit ihm vertraut werden möchte. Wie ist es mit Ihnen, liebe Leser? Haben auch Sie Ihre persönlichen „Acht“ für die einsame Insel?
„Augenöffner“ – wie ich sie in meinem Sprachgebrauch gern nenne – finden sich natürlich nicht nur im Konsum von klassischer Musik, aber angesichts der schier unermesslichen Weite dieses Pools ist die Wahrscheinlichkeit, in diesem sich stetig vergrößernden Ozean immer wieder über solche elektrisierenden Trouvaillen zu stolpern, gar nicht so gering. Man muss sich nur hineinwagen und – wie überall im Leben – in Bewegung bleiben. Und wer den fast schon elektrischen Schock kennt, der einen manchmal ganz unvermittelt schon direkt zu den ersten Tönen einer Ouvertüre durchfährt, vergisst diesen nie wieder. Er klingt in uns nach wie die Erinnerung an die ersten Schmetterlinge im Bauch, einen bestimmten Duft, einen bestimmten Geschmack.
Mit diesen belebenden Gedanken möchte auch ich – so wie Ian Bostridge, der für uns ein wenig Frühling in Beethovens Lied-Schaffen ausgegraben hat – den Blick bereits in Richtung Frühjahr richten. Auch wenn dieser leider noch ein wenig hin ist. Er wird kommen!
Ihre Yeri Han