EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 11/2023| Liebe Leser, es fällt dieser Tage abermals schwer, sich auf die lichten Aspekte in seinem Leben zu besinnen. Nicht nur dass seit mehr als anderthalb Jahren ein Angriffskrieg in Europa herrscht, den viele in dieser Form nicht mehr für möglich gehalten hätten; nun ist auch in Nahost die Gewalt erneut eskaliert, mit unzähligen zivilen Opfern auf beiden Seiten und einer Schonungslosigkeit, die einen fassungslos macht. Auch ich persönlich muss hilflos zusehen, wie engste Freunde Verluste betrauern, um Freunde und Familie bangen und tagelang vergeblich auf ein Lebenszeichen von Vermissten hoffen. Das macht zutiefst betroffen, ebenso wie die Bilder, die uns täglich von beiden Seiten erreichen. Es begleitet einen fast ein schlechtes Gewissen, wie belanglos währenddessen das eigene Leben nicht nur in den vertrauten Bahnen dahinplätschert, sondern man zudem das unglaubliche Privileg genießt, eine Zeitschrift zusammenstellen zu dürfen, die sich ganz dem Schöngeistigen verschrieben hat – für all die Glücklichen, die nicht in gravierenden Existenznöten und -ängsten, Lebensbedrohung, Verfolgung oder Klima-Not leben müssen, sondern auf der gefühlt zunehmend schrumpfenden Insel des Wohlstands und Friedens sitzen.
Musik wird immer wieder die Kraft angedichtet zu heilen, Menschen ungeachtet ihrer Herkunft zu vereinen. Und man wünscht sich mehr denn je, dem wäre so, aber diesen idealistischen Glauben muss man sich dieser Tage mit großer innerer Disziplin hart erarbeiten, wenn man sich beschaut, an wie vielen Stellen der Mensch dann doch auch immer wieder versagt. Oder vielleicht hören einfach noch immer zu wenige hin? Wie dem auch sein mag, und so naiv und wenig rational das Mantra aber auch anmutet – gerade jetzt, wo frohe Botschaften ein immer rareres Gut zu werden scheinen –, ich möchte Sie genau wie mich selbst ermutigen, weiter daran festzuhalten und Künstlern Glauben zu schenken, wenn sie sagen, dass Musik Grenzen überwinden kann.%weiter%Musik erreicht und bewegt uns, noch bevor wir das Licht der Welt erblicken; sie inspiriert, konserviert wie kein anderes Medium Erinnerungen, treibt uns wie Doping im Rahmen unserer individuellen Möglichkeiten und Ziele zu kleineren oder größeren Höchstleistungen an, ist wortlos imstande, Trost zu spenden, den wir anderswo nicht finden – oder auch einen Abend noch ein wenig besser zu machen. Es war die Musik, die unsere Titelkünstlerin Ermonela Jaho als junge Künstlerin in die große weite Welt hinausgetrieben hat, es war Musik, die trotz belasteter Kolonialgeschichte und zunächst geringer Unterstützung in einer jahrelangen Kraftanstrengung gemeinsam von Namibiern und Deutschen auf die Beine gestellt wurde – und es ist genau dieses kollektive musikalische Erlebnis für kommende Generationen, das in der pittoresken Stadt Lüneburg auf der Kippe steht, weil in den letzten Jahren von höherer Stelle nur unzureichend Verantwortung übernommen wurde.
Schon im Kleinen können wir Gutes bewirken – und wie Lüneburgs Intendant Hajo Fouquet richtig sagt: Natürlich kann Kunst nicht im Alleingang die Welt retten. Aber jeder von uns kann sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemühen, einen positiven Fußabdruck zu hinterlassen, nicht gleichgültig zu sein, sondern emotional engagiert zu bleiben und die Welt aktiv ein klein wenig besser zu machen, indem man sich mit Freundlichkeit, Nachsicht und Empathie gegen die um sich greifende Verrohung des Umgangs miteinander stellt und damit immer wieder sanft ein Zeichen gegen den daraus wachsenden Hass und die Gewalt setzt.
Ich hoffe, die folgenden Seiten bieten auch Ihnen einen Moment des Durchatmens, und freue mich, wenn wir zumindest ein wenig zu Ihrem seelischen Wohlergehen in diesen düsteren Zeiten beitragen können.|
Ihre Yeri Han