EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 11/2022 |
Dinge sind im stetigen Wandel, das gehört zur vom Menschen geprägten Welt untrennbar dazu. Es ist eine Eigenart, die unsere Spezies dorthin gebracht hat, wo sie sich aktuell befindet, mit all den Errungenschaften, aber eben auch den Schattenseiten, die so ein Prozess mit sich bringt. Gerade jetzt fühlt sich der Wandel, der uns als Gesellschaft erfasst, konkreter und unmittelbarer an als in den vorangegangenen zehn, zwanzig Jahren – nicht nur weil die Krisen uns so nah gerückt sind wie schon lange nicht, sondern auch weil viele globale Probleme, die zuvor bequem unter „ferner liefen“ abgelegt werden konnten, sich jetzt nicht mehr so einfach ignorieren lassen, sondern im Gegenteil immer mehr direkte Auswirkungen auf uns haben. Das alles macht etwas mit uns, wie es heute so gern formuliert wird, und es verschafft sich in immer mehr Lebensbereichen Sichtbarkeit – also auch in der Oper.%weiter%
Die vorliegende November-Ausgabe bildet dies nicht nur mit ihren aus sehr verschiedenen Perspektiven kommenden Interviews, sondern auch den ganz unterschiedlichen Aufführungen und Musiktheaterkonzepten, die unsere Autorinnen und Autoren zum laufenden Saisonbeginn für uns besucht haben, ab. Experimentierfreude in der Bühnensprache, das Herausstellen des weiblichen Narrativs in jahrhundertelang traditionell von Männern erzählten Geschichten, ein inszeniertes »War Requiem« von Benjamin Britten, Rares, aber auch Komisches und Hochunterhaltsames – das ist ein schöner Querschnitt, der die Möglichkeiten des Musiktheaters lebhaft widerspiegelt und Lust macht auf noch mehr Mut, mehr Innovationskraft, mehr Abwechslung, zumal jetzt gerade eine entscheidende Zeit zu sein scheint, in der die Weichen für ein zukunftsfähiges Opernwesen gestellt werden müssen – und vor allem auch können. Die jähe Krise, in die die Coronapandemie das Kulturleben gestürzt hat, sollte ebenso wenig wie die Wirtschaftskrise dafür herhalten, sich ängstlich zurückzuziehen, sich an bewährten Titeln und bewährten Namen festzuhalten und im Vertrauen darauf, dass das Stammklientel den Weg in sein Opernhaus schon finden wird, in jeder Hinsicht kleinere Brötchen zu backen; es gilt vielmehr, weiter aktiv und mit Courage für sich und sein einzigartiges Angebot zu werben und der dem Musiktheater innewohnenden Inspirationskraft gerecht zu werden, indem man künstlerisch wie vor allem auch gesellschaftlich relevant und folglich sichtbar bleibt. Und zwar nicht nur für die, die (hoffentlich) ohnehin kommen, sondern auch für jene anderen, die eines Tages, wenn ihre Zeit und ihr geregeltes Einkommen es ihnen erlaubt, den Zuschauerraum bevölkern sollen. Eine vielfältig gewordene Gesellschaft erfordert ein kreatives, vielfältiges Angebot – das das Althergebrachte keineswegs aus-, aber eben auch neue, unserer Gegenwart entlehnte Geschichten und Erzählweisen einschließen muss. Wie der Regisseur des kommenden einhundertjährigen Jubiläums der »Zwerg«-Uraufführung Paul-Georg Dittrich es treffend sagt: „Wir können nicht das, was draußen Teil unseres Alltags ist, im Opernhaus verneinen.“ Das ist vielleicht nicht die ganze, aber doch ein großer Teil der Wahrheit, und umso glücklicher sind wir, wie facettenreich und umfassend diese November-Ausgabe geworden ist mit erhebenden Erfolgsgeschichten wie der von Titelkünstlerin Elbenita Kajtazi, die als Jugendliche dem Krieg im Kosovo entfloh und nun auf der Schwelle zur ganz großen Karriere steht, oder dem einem schwierigen Elternhaus entstammenden und im Kloster aufgewachsenen Regisseur und Librettisten Tazewell Thompson; aber eben auch mit der offenkundigen Vielfalt an Wegen, die im Musiktheater auf uns warten. Die Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgeschöpft. Und das ist eine sehr hoffnungsfrohe Aussicht in zuweilen pessimistischen Zeiten.||
Ihre Yeri Han