EDITORIAL
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 11/2016
Das war schon ein ganz besonderer Moment: Ende September, an einem herbstlichen Montagmorgen im romantischen Taubertal, steht eine junge Sopranistin an einem Flügel und singt. Mozart, Beethoven, Bach. Es ist die erste Entscheidungsrunde beim diesjährigen Gesangswettbewerb DEBUT.
Weiter →Als das „Quia respexit“ aus Johann Sebastian Bachs »Magnificat« erklingt, geraten die hier sonst vorherrschenden Gedanken an Wettstreit, Konkurrenz und kritisches Hören plötzlich für einen Moment in den Hintergrund, denn Worte und Töne dieses bekannten, typisch abendländisch-barocken Marien-Lobgesangs formt eine 26jährige Syrerin aus Damaskus, die erst seit dem vergangenen Jahr in Europa professionellen Gesangsunterricht nehmen konnte. Dass sie mit dieser sehr kurzen Ausbildungszeit gegen eine starke, jahrelang geschulte Konkurrenz derzeit noch kaum eine Chance haben würde, war zu ahnen; viel entscheidender für sie selbst ist die Tatsache, dass sie es überhaupt schon bis hierher geschafft hatte – auch in der sehr direkten Bedeutung des Wortes. Innehalten, Besinnung, Reflektion bei Publikum und Juroren.
In den ausgefüllten Tagen eines Gesangswettbewerbs kann man viele wunderbare Momente erleben, die neben der eigentlichen, hochspannenden Herausforderung eines frühen Aufspürens und gewissenhaften Förderns von vielversprechenden Talenten wesentliche Anreize auch für mich als Jury-Mitglied bieten: Die ansteckende, mitreißende Begeisterung so vieler junger Menschen für die Oper und das Lied. Eine ganz unmittelbare, zuweilen regelrecht sprühende Lust am Singen, wie man sie auch im arrivierten Opernbetrieb nicht alle Tage erlebt. Dazu erfüllende Begegnungen, oftmals in multikulturellem Dialog. Und eben die universale, über alle Länder- und Sprachbarrieren hinweg in gleicher Weise einende wie tröstende Kraft der Musik.
Erkenntnisreich in fachlicher Hinsicht sind Wettbewerbe ohnehin. Nicht selten bestätigen sie Tendenzen, die sich längst auf den Opernbühnen manifestiert haben. Auffällig, und das schon seit geraumer Zeit, ist die immer noch zunehmende Präsenz – und eben auch Qualität! – asiatischer Sängerinnen und Sänger. Beim Weikersheimer Wettbewerb ging sogar, im Sportjargon formuliert, der komplette Medaillensatz an Südkorea: Wenig überraschend hatten sich einige Teilnehmer als stimmtechnisch sehr solide ausgebildet vorgestellt, zudem aber auch interpretatorisch oberstes Niveau präsentiert. Eine Kompetenz, die man einstmals noch als relativ sichere Bank für europäische Teilnehmer ansehen konnte. Tempi passati! Das Klischee vom seelenlosen asiatischen Singautomaten ist längst obsolet; das können wir seit Jahren an fast allen Opernhäusern in etlichen schönen Vorstellungen immer wieder erleben.
Ein neuerlicher Nachweis von beachtlich hohem Vokal-Potenzial in fernöstlichen Landen heißt noch lange nicht, dass europäische Sänger zukünftig nicht mehr konkurrenzfähig sein werden. An herausragendem Talent mangelt es auch bei uns nicht, ganz im Gegenteil. Und stammen nicht sogar einige der derzeit erfolgreichsten Opernstars just aus Deutschland? Dennoch: Unsere Musikhochschulen müssen sich kritische Fragen gefallen lassen. Das Ausbildungssystem insbesondere in der Fachrichtung „Klassischer Gesang“ steht ja nicht erst seit heute in der Kritik. Gerade die hoffnungsvollsten, vielversprechendsten Nachwuchssänger, die wirklich intensiv und fokussiert an sich arbeiten wollen, haben beste Programme verdient.
Wie nach einer im Idealfall umfassenden, hochprofessionellen Gesangsausbildung eine Karriere verlaufen kann, hängt von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren ab. Auch die Persönlichkeit eines Sängers spielt eine Rolle. Das umschreibt sehr anschaulich unsere wunderbare Titelkünstlerin Patrizia Ciofi, die mit ihrer langjährigen internationalen Karriere aufs Schönste beweist, dass Erfolg auch ohne großen Medienrummel möglich ist. Qualität setzt sich eben durch!