EDITORIAL
Autorin: Y. Han · Ausgabe 04/2024|„Altmodisch“ und „modern“: zwei Schlagworte, auf die ein Opernabend oft heruntergebrochen wird. Und oftmals scheiden sich zwischen diesen beiden Polen die Geister, manchmal sogar auf bedauernswert unversöhnliche Art und Weise, die wenig Verständnisspielraum für die jeweils andere Seite übriglässt. Ist es unsere Aufgabe und Verantwortung, Opern stets im Licht unserer geltenden Gegenwart aufzubereiten? Oder sollten wir ihnen den Charme einer längst vergangenen Zeit – ihrer Zeit – lassen und die Vergangenheit konservieren?%weiter%Fragt man die auf der Bühne beteiligten Akteurinnen und Akteure, kommt man über die in diesem Zusammenhang oft geäußerten Worte „solange man dem Willen des Komponisten treu bleibt“ zu einem in diesem Zusammenhang ebenfalls sehr spannenden Fragen- und Gedankengeflecht, über die in dieser neuen Ausgabe auch der Musikwissenschaftler Dr. Kai Hinrich Müller im ausführlichen Gespräch zu dem unter anderem von ihm mit erarbeiteten Dresdner Originalklang-»Ring« mit unserem Autor diskutierte: Können wir wirklich wissen, was – in diesem konkreten Beispiel – Richard Wagner heute von uns wollen würde? Wie viel „was wäre wenn“ ist gut beziehungsweise angebracht?
Wissen können wir es naturgemäß nicht. Wir können oft nur spekulieren. Und was „treu bleiben“ in Bezug auf die konkreten Absichten des Komponisten an künstlerischen Möglichkeiten genau einschließt, kann ebenfalls mehr oder weniger großzügig ausgelegt werden. Gerade wo es um die erzählerischen Gesichtspunkte geht, ist der Spielraum nur äußerst vage definiert (wenn überhaupt) und entsprechend groß. Wer will sich da anmaßen zu beurteilen, welche Darbietung noch im Sinne des Schöpfers ist und welche ihr widerspricht? Und: Liegen darin nicht großartige Möglichkeiten? Wie gerade auch Regisseurinnen und Regisseure sowie natürlich auch Komponistinnen und Komponisten immer wieder am eigenen Leib erfahren müssen: Es gibt kein Geheimrezept für die erfolgreiche Rezeption eines Werkes, seiner Aufbereitung und seines Fortbestands im Repertoire. So kann eine jahrzehntealte, in jeder Hinsicht historisch daherkommende und sich akribisch an jede Partituranweisung haltende Produktion genauso begeistern wie ein multidisziplinäres, mit jeder Tradition brechendes junges Kunstwerk. Entscheidend für die Emotion, die ein Musiktheaterabend in uns auslöst, ist also vielleicht gar nicht so sehr, wie „treu“ die Erzählung dem Geist eines Komponisten und seines Librettisten bleibt, oder wie viel „Unerhörtes“ eine Inszenierung auf der anderen Seite zu wagen bereit ist, sondern wie bereitwillig wir uns auf sie einzulassen im Stande sind. Um wieder zu den Worten des Musikwissenschaftlers zurückzukehren: Kunst ist immer auch ein wenig eine Einladung zur kritischen Auseinandersetzung – das beginnt aber immer beim Sich-Einlassen auf etwas. Wo von vornherein die inneren Türen verschlossen werden, sobald eine Videokamera angeschaltet wird oder ursprünglich nicht vorgesehene Tänzer über die Bühne wirbeln, bleibt nur wenig bis gar kein Raum, eine solche Einladung zum Mitdenken anzunehmen. Sacken lassen, sich einfühlen, versuchen, den Ideen und Assoziationsketten nachzuspüren, die einer Deutung zugrunde liegen könnten – das ist eine Hausaufgabe, die zu ganz spannenden neuen Resonanzen in uns selbst führen kann. „Radikale Empathie“ wurde kürzlich im Rahmen eines Festivals für Neue Musik von den Machern zeitgenössischen Musiktheaters als zentrale Notwendigkeit für das lebendige Weiterleben des Genres gefordert; aber auch das Neudenken und gedankliche Aufbrechen von vertrauten Strukturen und Schemata.
Wer dem künstlerischen Output der Theaterlandschaften (vor allem auch abseits der einschlägigen Ortsnamen) aufmerksam folgt, stellt fest, dass dahingehend durchaus immer wieder etwas ausprobiert und angeboten wird, mal mehr, mal weniger „radikal“. Das Musiktheater verträgt als Schmelztiegel von Künsten diese Pluralität von unterschiedlichen Angeboten. Also können wir uns auch die Großzügigkeit und Empathie erlauben, die uns entgegengestreckte Hand zu ergreifen und uns überraschen zu lassen, wohin sie uns mitnimmt.
Ich hoffe, die vorliegende Ausgabe macht für Sie solch eine kleine Reise auf – von Alt bis Neu ist wieder alles dabei, so wie Sie es von uns gewohnt sind. ||
Ihre Yeri Han