EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 12/2021
Ein Leben an der Schwelle zum Ausnahmezustand – das ist ein Zustand, der uns zumindest aus der Zuschauerperspektive nicht fremd ist, schließlich sind genug Werke aus Film, Theater und Literatur genau dort angesiedelt. Auch auf der Opernbühne erleben wir meistens nur Menschen in Grenzsituationen; in vielen Fällen haben Liebe und Eifersucht oder tragische Missverständnisse plus fehlgeleiteter Stolz die Akteure in diesen misslichen Zustand gebracht. In anderen Fällen wie in Schostakowitschs »Nase«, die kürzlich in München in einer Neuinszenierung gezeigt wurde, oder auch in Brittens »Midsummer Night’s Dream« haben andere, übernatürliche Faktoren ihre Finger im Spiel, um den oder die Protagonisten in Irrungen und Wirrungen zu stürzen.
Weiter →Menschen in Grenzsituationen zu erleben ist für uns offenbar von zeitlosem Reiz – wir leiden mit dem Herzschmerz und Verrat mit, der sich vor unseren Augen entfaltet, können aber genauso auch über Groteskes und Absurditäten lachen, die sich auf einer Bühne darbieten. Wo es um die Oper geht, wird oft mit Selbstironie auf das berühmte und arg verkürzte Liebesdreieck „Tenor und Bariton streiten sich um den Sopran“ hingewiesen oder auf den üblen Verrat, der ebenfalls beliebtes Thema ist; aber wie sehr lieben wir doch gleichzeitig die Dramatik, die Film und Bühne in unsere Leben bringen. Ist es nicht egal, wie oft ein Tenor und ein Bariton um einen Sopran konkurriert haben, wenn sie dies in soghafte Musik verpackt tun?
Am Rande des ständigen Ausnahmezustands bewegen auch wir uns inzwischen im realen Leben schon sehr lange, allerdings beileibe keinem, der einer ergreifenden Liebesgeschichte geschuldet wäre, sondern vielmehr dem Plot eines Katastrophenfilms ähnelt – und man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass sich anders als erhofft und erwartet noch immer kein Ende abzeichnet. Obwohl zahlreiche Opernhäuser inzwischen auf eine 2G-Strategie setzen, wird andernorts die erneute Verkleinerung von Orchesterbesetzungen zugunsten des Infektionsschutzes beziehungsweise sogar schon die vorübergehende Schließung vermeldet. Der Grundtenor und auch die Erwartungshaltung in einer weitestgehend durchgeimpften und bald auch geboosterten Bevölkerung lauten nach wie vor, dass am Spielbetrieb, an einem normalen Leben und Kulturangebot festgehalten wird, und sei es unter „2G+“-Bedingungen. So verlockend der emotionale Ausnahmezustand in der Kunst aus Zuschauerperspektive auch sein mag, man selbst will das Damoklesschwert der Eskalation nicht gern unbefristet über sich schweben haben, erst recht nicht wenn man das Gefühl hat, alles einem Mögliche getan zu haben, um weiter und in vernünftigem Rahmen am gesellschaftlichen Angebot partizipieren zu können. Womit wir wieder beim bereits häufiger in dieser pandemischen Zeitkapsel zur Sprache gekommenen Aspekt von Einheit und Zusammenhalt wären, auf das Künstler auf dem Höhepunkt des Ausnahmezustands immer wieder besondere Emphase gelegt haben: Musik und Kunst haben die Kraft, mit ihrer universellen Gültigkeit und Schönheit zu heilen und zu einen. Aber gleichzeitig erleben wir seit Monaten mehr und mehr, wie strapaziert und zermürbt die Gesellschaft ist, und stecken nun erneut, wie schon zum Beginn der Impfkampagne, inmitten einer Diskussion, wie weit Solidarität gehen kann, beziehungsweise muss.
Das Erscheinen unserer Dezemberausgabe fällt wie immer in etwa auf den Beginn der Adventszeit, eine der schönsten Zeiten eines Jahreszyklus – und wir wünschen Ihnen und uns allen, dass sie besinnlich und unbelastet sein möge von unschönen Diskussionen und die Opernhäuser und Theater dieses Jahr unbehelligt bleiben. Es träfe wieder einmal die falschen, wenn die Musik abermals verstummen müsste. In diesem Sinne: eine festliche, strahlende Adventszeit und eine schöne Lektüre!