EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 2/2021
Ein neues Jahr ist angebrochen, die Lage aber ist trotz der an den Impfstoff geknüpften Hoffnungen noch die gleiche wie zum Jahresende. Wir haben mehr Zeit denn je, sind häuslicher denn je, hängen – zwangsläufig – mehr am digitalen Angebot denn je. Wo für den Konsumenten das Gefühl von Unzulänglichkeit wächst, ohne dass er aber angebotstechnisch eine andere Wahl hat, als den Live-Streamings und TV-Übertragungen beizuwohnen, überwiegt bei Künstlern für den Moment in ebenso fatalistischer Manier die Dankbarkeit, in diesen Zeiten überhaupt auf einer Bühne stehen und für jemanden „performen“ zu können – selbst wenn dieser jemand nicht real anwesend, sondern nur eine imaginäre Variable ist.
Weiter →Sich anstelle der Kameralinsen die Augenpaare von zugewandten Zuschauern vorstellen – so macht es der junge Countertenor Cameron Shahbazi, der kürzlich im Kölner Live-Stream von »Written on Skin« zu erleben war, um das Energielevel zu erreichen, das normalerweise nur ein voll besetzter Saal auslöst. Um einen weiteren treffenden Vergleich von ihm heranzuziehen: Überall geht derzeit nur „Take-Away“, auf das volle Restaurant müssen wir noch warten.
Das Gefühl von Ungerechtigkeit, das die Kulturbranche begleitet hat, ist derweil abgeflacht in seinem anfänglichen Schmerz, jetzt wo der „Shutdown“ sich auf alle Branchen ausgeweitet hat und man nicht mehr verwundert und fragend nach links und rechts blicken muss. Die Perspektive ist dennoch desolat, wenn man sieht, wie viele Bühnen nicht länger im Gleichschritt mit den politischen Vorgaben zu gehen versuchen, sondern frühzeitig (und mit Weitsicht) bis Ende Februar, wenn nicht noch länger, ihre Türen geschlossen haben – das ist eine lange Zeit, die sich gefühlt lang und länger streckt. Sicher empfinden auch Sie das so. Droht auch uns am Ende das Szenario einer weitestgehend gecancelten Spielzeit 2020/21 oder können die Frühjahrsfestivals, die aktuell noch in fast verwegen anmutender Zuversicht ihre Programme teilen, tatsächlich stattfinden? Die kommenden Wochen werden zeigen, wie weit es aufwärts geht!
Wie nutzen Sie diese biedermeierliche Zeit bis dahin, liebe Leser? Gibt es neue Themen, neue Werke, neue Komponisten, die Sie während des Corona-Jahres ganz neu oder näher kennen gelernt oder für die Sie erstmals seit langem die gebührende Zeit und Muße gefunden haben? Den Kontakt zur Musikwelt zu halten erfordert derzeit große eigene Initiative, von Seiten der Künstler, die sich online engagieren, ebenso wie von ihren Fans und Zuhörern, die sich ihre Daheim-Programme findig zusammenstellen müssen – eine Erfahrung, die auch wir, das „Opernglas“, in den vergangenen Monaten gemacht haben, wenn Leser uns zu verstehen gaben, wie sehr sie von der monatlichen Lektüre gezehrt haben. Es zeigt sich also wieder einmal so nachdrücklich wie selten zuvor, wie wichtig es ist, rege zu bleiben, die Augen offen und die Hand ausgestreckt zu halten. Wir freuen uns, für Sie der Kontakt zur Welt der Oper sein zu dürfen.