Editorial
Autor: R. Tiedemann · Ausgabe 01/2014
Es gibt sie noch, die großen, elektrisierenden Opernereignisse. Wie kaum eine andere Produktion in jüngster Zeit hat der neue Berliner »Trovatore«, obgleich nicht einmal die eigentliche Premiere dieser Inszenierung, schon weit im
Vorfeld für weltweite Aufmerksamkeit gesorgt – und für eine fast schon ins Hysterische gesteigerte Nachfrage.
Weiter →Den Weg ins Theater säumten etliche Opernfans mit „Suche Karte!“-Schildern, zuvor waren die Preise für weiterverkaufte Eintrittskarten in exorbitante Höhen gestiegen. Der Faszination eines Gipfeltreffens der Trias Netrebko / Domingo / Barenboim, zumal in dreifachem Debüt vereint, konnte sich offenbar kaum einer entziehen. Jeder, so schien es, wollte dabei sein – auch die versammelte Polit-prominenz. Oper als gesellschaftliches Event des Jahres.
Die dichteste Opernszene der Welt ist eben doch zu international konkurrenzfähigen Großereignissen fähig. Aber sie kann noch viel mehr. So berechtigt der Run auf eine derart prestigeträchtige Vorstellung voller Starappeal ist, wenn sie, wie hier, tatsächlich künstlerisch ertragreich gelingt, so sehr lebt die Oper gerade in Deutschland auch von der Vielfalt, von der großen Bandbreite des Repertoires und von den Ensembles, die auf all den so unterschiedlichen Staats-, Landes- und Stadttheaterbühnen Abend für Abend voller Begeisterung und Einsatzbereitschaft die ganze Faszination Musiktheater zum Leben erwecken. Hier geschehen immer wieder kleine und auch größere Theaterwunder. Und doch sind viele Veranstalter permanent existenzgefährdet. Wie kann das sein?
Wer am Premierenwochenende des Berliner »Trovatore« nur gute 120 Kilometer nach Südwesten fuhr, konnte in Dessau die Wiederaufnahme einer anderen, im Mai 2013 herausgekommenen Produktion erleben: Jules Massenets wunderbare »Esclarmonde«. Das Anhaltische Theater hat mit dieser Rarität nichts weniger als die Deutsche Erstaufführung des faszinierenden Werkes auf die Bühne gebracht und sorgt so für eine Wahrnehmung der Stadt weit über die Grenzen des notorisch klammen Bundeslandes Sachsen-Anhalt hinaus. Ein Gutteil der Besucher kam aus Berlin, Hamburg, Bayreuth oder München, aus Österreich und Frankreich, sogar aus Taiwan. Selbst die zweite überregionale Attraktion der Stadt, das Bauhaus, profitierte an diesem Sonntag von der Sogkraft des Theaters, waren doch fast alle Führungen, zu dieser Jahreszeit sonst eher spärlich besetzt, durchweg von auswärtigen Opernbesuchern frequentiert. Es fällt schwer zu glauben, dass dieses Theater, das nicht nur architektonisch ein Juwel ist, sondern auch mit wirklich formidablen Ensembles aufwartet und mit einem kreativen Spielplan punktet, kurz davor stehen soll, finanziell kastriert und damit mittelfristig künstlerisch ruiniert zu werden. Ein fatales Signal für die Stadt und das ostdeutsche Bundesland, das ja daneben auch noch weitere traditionsreiche Theater zu seinen kulturellen Kronjuwelen zählen darf. Auch die Händel-Stadt Halle sieht sich nach dem jetzt verabschiedeten Landeshaushalt mit einem drastischen Sparszenario bedroht.
So untergräbt man ganz nebenbei auch die für jede Region so wichtigen Faktoren Umwegrentabilität und Standortvorteil. Ganz wesentlichen Anteil am Erfolg engagierter künstlerischer Arbeit haben aber auch Treue, konstantes Interesse und Aufgeschlossenheit des Publikums, denn leere Ränge sind eine Steilvorlage für notorische Sparfüchse. Also, liebe Leser in Dessau und Halle, in Schwerin, Rostock, Bonn und all den anderen potenziell gefährdeten Opernstädten: Motivieren Sie Familie, Freunde und Kollegen. Gehen Sie gemeinsam ins Theater! Das ist und bleibt die wirkungsvollste Unterstützung. Das neue Jahr bietet dazu wieder unzählige attraktive Möglichkeiten. Nachdem wir den großen Verdi-Wagner-Rummel überstanden haben, geht es 2014 bereits ins nächste Jubiläumsjahr, Christoph Willibald Gluck und Richard Strauss sind da nur die populärsten Namen. Und gleich zu Beginn, am 16. Januar, gilt es, den 80. Geburtstag einer der größten Mezzo-sopranistinnen unserer Zeit zu feiern: Marilyn Horne. Wir haben die noch immer sehr aktive Künstlerin in New York besucht. Freuen Sie sich auf die Begegnung mit einer Legende.
Außerdem in dieser Ausgabe: ein Gespräch mit Frankreichs neuem Sopranstar Sabine Devieilhe sowie ein höchst interessanter Gedankenaustausch mit dem Dirigenten Teodor Currentzis. Er steht dem klassischen Mainstream, ja der gesamten Klassikbranche höchst skeptisch gegenüber und stellt zu recht die Frage, wie sinnvoll eine Vorausplanung sein kann, die bis zu fünf Jahre in die Zukunft sehen will. Sollte nicht tatsächlich wieder mehr Flexibilität und Spontaneität in unsere kulturelle Wahrnehmung rücken? Wie reizvoll der kreative Überraschungsmoment sein kann, werden auch zu diesem Jahreswechsel wieder diverse Silvester- und Neujahrskonzerte beweisen. Neugier wecken, Spannung erzeugen, die Routine bei Publikum wie Musikern gleichermaßen durchbrechen – das könnte auf breiterer Basis einen ganz eigenen Sog freisetzen. In diesem Sinne auf in ein aufregendes Opernjahr 2014!