EDITORIAL
Autor: M. Lehnert · Ausgabe 9/2019
Es gibt sie, die internationale »Ring«-Gemeinde: Opernfreunde aus aller Welt, die sich aufmachen, um Richard Wagners vier Abende füllendes Bühnenfestspiel überall dort zu erleben, wo es gut besetzt oder innovativ in Szene gesetzt wird – im besten Falle sogar beides. Zum Teil kennt man sich sogar, trifft sich gern wieder, tauscht sich aus. Für den »Ring«-Fan als solchen ist ein oder auch schon mal ein mehrfaches alljährliches Erleben der Tetralogie Lebenselixier und für die Hotellerie- und Restaurantbranche vor Ort stets ein Geschäft. Nicht nur in Bayreuth freut man sich bereits auf 2020, gelten doch Sommer ohne das große deutsche Kunstwerk als die „stressigeren“, weil von wesentlich häufigeren Bettenwechseln und Gästefluktuationen geprägten Festspielsommer. Im nächsten Jahr ist es dann auch im Allerheiligsten wieder soweit, mit bewusst kalkulierten verschiedenen Besetzungen von Siegfried und Brünnhilde.
Weiter →Und geradezu soghaft und weltumfassend kündigen sich auf dem Globus weitere und spannend besetzte Neuproduktionen an. In Seoul und Leipzig ist man schon sehr weit vorangeschritten, Chicago bringt im Frühjahr 2020 drei zyklische Aufführungen, und selbst das australische Brisbane will es Ende kommenden Jahres dreimal wissen, und das ebenfalls in exzellenter Besetzung. In New York ist Met-Direktor Peter Gelb sich immer noch nicht sicher, ob es einen neuen »Ring« geben wird in den kommenden Jahren oder die beim Publikum so beliebte und mit „The Machine“ betitelte Produktion erneut gezeigt wird. Oder lässt sich zwischen den Zeilen in unserem Interview mit ihm in dieser Nummer bereits etwas herauslesen? Im September soll Wagners »Ring« auch erstmals im westfälischen Minden aufgeführt werden, wo mit einem beispiellosen Enthusiasmus der Kraftakt zweier Zyklen gestemmt wird, sorgfältig vorbereitet in den vergangenen vier Jahren mit jeweils einer Produktion, und alles, wie von Ihnen, liebe Leser, gewohnt, beobachtet durch das „Opernglas“.
Das erlaubt sich auch einmal, genau hinzuschauen auf den Stand der inzwischen auffällig heiß laufenden „MeToo“-Debatten, deren Zenit in Politik, Kunst und den sich zu leicht vorschnell exponierenden Medien offenbar übersprungen ist. Plácido Domingo, bekannt für seine Innovationskraft mit der ganzen dahinter steckenden Kompetenz, muss nun auch noch das deutlich machen. Womanizer hier, Straftäter da? Es gibt da einen Unterschied. Und so klug und souverän, wie sich diese weltweit seit Jahrzehnten unstrittig wichtigste Persönlichkeit für die gesamte Opernwelt spontan geäußert hat zu den Avancen, die er in den USA gemacht haben soll, analysiert er exakt den ja bereits komplett vollzogenen Wandel hinsichtlich der gesellschaftsgeschichtlichen Kriterien. Er erkenne an, dass sich heutige Regeln und Standards von denen der Vergangenheit unterschieden, und nun – wie jeder andere Mensch – formuliert er: „Ich habe geglaubt, dass all meine Handlungen und Beziehungen immer gewünscht und einvernehmlich waren.“ Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Wir wünschen ihm und uns allen, dass sich die Angelegenheit rasch bereinigen lässt. Wofür das auffällige „Füße still halten“ der europäischen Opernhäuser und Festivals in dieser neuesten „Affäre“ ein deutliches Signal zu sein scheint.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre dieser Ausgabe – nicht nur – mit den wichtigsten Berichten unserer emsigen Mitarbeiter von den sommerlichen Festspielen.