EDITORIAL
Autor: Y. Han · Ausgabe 6/2021
Der Sommer naht in großen Schritten, und scheinbar zahlt sich auf der Geraden zum Saisonfinale endlich die stete Bereithaltung mancher deutscher Opernhäuser aus, denn quasi von einem Moment auf den anderen kann hier und da doch noch geöffnet werden: So wird etwa Hamburg tatsächlich seine »Agrippina«-Übernahme der Barrie-Kosky-Inszenierung zur Hamburgischen Premiere bringen und anschließend auch die gefeierte neue »Manon« live vor Publikum zeigen können, in München geht Aribert Reimanns »Lear« vor Zuschauern auf die Bühne, auch das Landestheater Detmold nimmt seinen Spielbetrieb Ende Mai wieder auf, und die Deutsche Oper Berlin knüpft mit dem »Rheingold« an ihr Pilotprojekt an.
Weiter →Der Ansturm auf die eingeschränkten Kontingente wird – davon ist sehr sicher auszugehen – wieder groß sein, so wie Hamburgs überdachte Außengastronomie trotz deprimierender Wetterprognose direkt mit Reservierungen bestürmt wurde. Niemand mag mehr zu Hause sitzen, man möchte raus, zurück ins Leben, zurück in die Konzertsäle, und wer bereits durchgeimpft ist, kann das alles sogar beinahe sorglos tun. Mit den sich ausweitenden realen Öffnungsperspektiven steigt innerlich die pulsierende Vorfreude auf den ersten live erklingenden Ton an. Und der sich hebende Vorhang, die ersten Noten der Ouvertüre werden für viele von uns ein nach der monatelangen Entwöhnung sicherlich berührender Moment sein, ähnlich einer Erstbegegnung, die spektakuläre Reize im Menschen auslöst – schließlich musste unser Gehörsinn lange darben. So mancher hätte es sich in einem hypothetischen Gedankenspiel bestimmt nicht auszumalen gewagt, wie essenziell letzten Endes ein funktionierendes Kulturleben für das seelische wie körperliche Wohlbefinden ist und wie schnell das Leben ergraut, wenn der regelmäßige Einfluss von gelebter Kunst versiegt.
Sicher kennen auch Sie den Moment, wenn ein Ton, eine ganz bestimmte Klangfarbe oder ein Messa di Voce den eigenen, doch bloß zuhörenden Körper bis ins tiefste Mark trifft; wie man direkt mit den ersten aus dem Orchestergrabenden aufsteigenden Tönen tief atmet und fühlt: Das ist es! Die Freude, das alles bald wieder regelmäßig erleben zu können, hat die oft beschworene Kraft unabhängig von vermeintlich trennenden Faktoren zu einen, instinktiv eine positiv konnotierte Verbindung zu Fremden herzustellen – wir haben es erlebt, als auf italienischen und spanischen Balkonen mitten im schwersten Lockdown gesungen wurde, als DJs in leeren Straßen für die Daheimsitzenden, Musiker auf ihren Balkonen kleine Konzerte für die Nachbarschaft spielten. Und wir werden es wieder fühlen, wenn wir gemeinsam im schummrigen Opernsaal sitzen und die wohltuende, von so vielen Künstlern in unseren Interviews während der Pandemie als „heilend“ beschriebene Kraft der Musik sich auf uns niedersenken spüren werden.
In dieser zuversichtlich gestimmten Haltung wünsche ich Ihnen wie immer eine ebenso erbauliche Lektüre – freuen wir uns auf den Sommer!